Vom Durchdrehen der Schraube

Gibt es eigentlich ein Fach wie „Vergleichende Ethnologie der Erziehungswissenschaften“?

Ich würde gerne wissen, was es für Gemeinsamkeiten gäbe, wenn sich die Mütter von Dylan Klebold, Eric Harris (die Mütter der Columbine-Shooter) mit den Müttern von Ismael Omar Mostefai, Salah und Ibrahim Abdeslam und Sami Amimour (vier der Bataclan Attentäter) mal über Erziehungsfragen unterhalten würden.

Sue Klebold hat ein Buch herausgebracht, ich habe es gelesen. Die Klebolds seien sehr nette Leute, sagt das Vorwort. Was schwierig sei, denn es wäre doch alles irgendwie einfacher, wenn es gelänge, sie nicht zu mögen.

Sue Klebold schreibt nichts über ihren Erziehungsalltag. Sie schreibt, dass sie ihren Sohn zu einem hilfsbereiten und respektvollen jungen Mann erzogen habe.

Sie schreibt, hätte jemand ihre Familie unter die Lupe genommen, hätte er nichts gefunden, was nicht hochgradig durchschnittlich gewesen sei.

Dass sie liebevolle, aufmerksame und engagierte Eltern gewesen seien.

Auf dem Cover ist ein Foto von Mutter und fünfjährigem Sohn beim Spiel. Ein süßes Bild, ein hübsches Kind. Heute ist Sue Klebold engagiert in der Suizidprävention, das Buchhonorar spendet sie für diesen Zweck.

 

Alarmierend ist das Wort „durchschnittlich“. Denn so kann allen gleichermaßen liebevollen und aufmerksamen und engagierten Eltern solch ein Schicksal widerfahren:

Dass ihr Sohn ein Mörder wird.

 

Erziehende werden mit ihrer Aufgabe meist ganz schön allein gelassen. Es ist schlecht, wie alleine Mütter, Väter oder auch Familien mit ihrer Aufgabe dastehen.

 

Wie lernt man, ein in einem Trotzanfall verlorenes Kind zu beruhigen?

Wie bekommt man raus, dass Drohungen schaden und die meisten Worte nicht helfen?

Dass man erst Zugang zu dem kleinen tobenden Wesen findet, wenn man auf seine Gefühlswelt einsteigt?

Wie kann man sich diese Verhaltensvariante zu eigen machen, wenn man niemals in dieser Situation war?  

 

Imagine: Du bist (als liebevolles, aufmerksames und engagiertes Elternteil) mit dem Kind auf dem Spielplatz gewesen und ihr müsst nach Hause. Das Kind legt einen ausgewachsenen Tobsuchtsanfall aufs Pflaster. Es ist vollkommen in seiner Gefühlswelt gefangen. Leute gucken. Du musst nach Hause. Die Straßenbahn wartet nicht.

 

Es gibt jede Menge Eltern, die (verständlicherweise!) wütend werden. Ist ein Scheißgefühl, in so einem Moment. Dann am Ärmchen reißen, Strafen androhen, („eine Woche keine Gummibärchen/Fernsehen/fahren wir nie mehr hierher/geh ich alleine und lass dich hier/kannst du zuhause was erleben“), das Kind in die Bahn zerren mit der Begründung „…X… muss lernen, dass nicht alles nach seinem Kopf geht/wenn die Eltern was sagen, dann gilt das, und zwar ein für alle Mal!“. You name it. Das Kind wird bestraft. Und ja, auch eine sogenannte Konsequenz ist eine Strafe.

 

Damit verletzt man das Kind.

 

Und ich glaube, dass viele Eltern immer noch denken, was die meisten denken.

Was in etlichen Büchern zu Erziehungsfragen steht.

 

Dass so ein bisschen Autorität und Schmerz dem Kind nicht schadet, sondern dazu führt, dass es bestimmte Dinge „lernt“.

 

Argumente kann das Kind in einem solchen Moment buchstäblich nicht hören. Sein Gehirn ist einfach noch nicht adäquat ausgereift. Hier kommt man nur mit Liebe und Empathie weiter, wenn man keinen Schaden anrichten will.

 

Stephen Porges, ein hochdekorierter Psychiatrie Professor in den USA, schreibt, es sei verwunderlich, wie sehr das Bedürfnis nach Sicherheit, das in unserem Leben eine immanent wichtige Rolle spiele, von unseren Institutionen ignoriert werde. Es gebe einen Unterschied zwischen der verbalen Beschreibung von Sicherheit und der körperlichen Empfindung davon. Und schließlich, dass in den Elternhäusern und Schulen der Schwerpunkt auf der Förderung kognitiver Prozesse liege und man körperliche Empfindungen und Bewegungsimpulse eher hemme.

 

Was kann ein Kind tun, wenn es wütend ist?

 

Sein Gefühl ist ja echt!

 

Es bekommt gesagt, du hattest heut schon Gummibärchen. Und wenn es weiter brüllt,

vor Wut,

vor Enttäuschung,

vor Zorn,

dann versuchen fast alle Eltern, das Kind irgendwie ruhig zu bekommen.

 

Ein brüllendes Kind ist peinlich.

 

Die haben ja ein kleines Monster/es ja überhaupt nicht im Griff/müssen ihr Kind mal ein bisschen disziplinieren

 

– sind gängige Gedanken und Aussagen, ja, Kolumnen und gar ganze Bücher gibt es, die behaupten, dass dieser grauenvolle fremde Stamm der KINDER (die ja nur auf die Welt gekommen sind, um ausgewachsene Monster zu werden), tatsächlich Monster werden, wenn man sie nicht rechtzeitig diszipliniert.

 

 

Wie schwer es mir fällt, darüber zu schreiben und dabei nicht wütend und zynisch zu werden. Sachen wie „ein Klaps hat mir damals auch nicht geschadet“ bringen meine Galle zum Aufsteigen. Dabei sind das bereits beschädigte Menschen, die sowas denken und sagen.

 

Das Kind ist klein.

Es ist schwächer als Erwachsene.

Sein Gefühl ist echt.

Es wird festgehalten.

Es wird angebrüllt.

Es soll nicht weinen und schreien.

 

Schon mal Liebeskummer gehabt?

 

Hat dir dann jemand gesagt, der oder die Verflossene sei doch deine Gefühle nicht wert?

Hat es was gebracht? NOPE.

Und es war schlimm genug, auch ohne sich klein und hilflos und ausgeliefert und machtlos zu fühlen. Und von dem Menschen, dem man am meisten liebt und braucht, und bei dem man sich immer sicher fühlen möchte, zu hören:

Und wenn du jetzt nicht vernünftig bist, darfst du nicht mehr das Schöne machen, das dir so Freude macht.

Und du bekommst auch nicht mehr das Leckere, das dir so gut schmeckt.

Und außerdem halte ich dich fest und schreie dich an.

 

Gefühle sind Gefühle. Es ist wichtig, dass Kinder sie haben dürfen.

Das Hirn ist kein Muskel, den man trainieren sollte, damit er Schmerz ertragen kann.

 

Robert Sapolsky, Neurowissenschaftler an der Stanford University, hat in einem Tausend-Seiten-Wälzer den Zusammenhang zwischen Hirnentwicklung und Gewalt erforscht. „Gewalt und Mitgefühl“ heißt das Buch, und darin finden sich etliche Beweise dafür, wie sehr Stress und Angst schaden. Wir sind die Beschützer unserer Kinder.

Aber das reicht nicht aus, wenn wir sie im Grunde vor allem vor einer Sache schützen müssten: vor ihrem eigenen Lebensraum. Unserer Gesellschaft. Mit ihren auf den Kopf gestellten Werten, die sich, so scheint mir, nur in einem empathiearmen Raum so pervertiert entwickeln konnten.

 

Jeder, der sich ein Auto oder einen Computer kauft, lässt sich beraten, wälzt Umfrageseiten im Internet, diskutiert mit Freunden und Kollegen, um eine guten Kauf zu machen. Ein Mechaniker bei Daimler verdient dreimal so viel wie eine Kindergärtnerin. Die Aufklärungsquote eines Banküberfalls überrundet die von Kindesmisshandlung um ein Vielfaches. Der Bankräuber wird auch härter bestraft als derjenige, der ein Kind verprügelt. 

 

Es gibt eine ganze Menge gesicherter Erkenntnisse, wie ein Menschlein am besten gedeiht. Wie sich Stress und Angst auf Hirnentwicklung und Psyche auswirken.

Wo sind die Fortbildungen dazu? Es gibt so etwas wie Elternschulen, die meist von denjenigen besucht werden, die sich ohnehin mit dem Thema befassen. Aber diese Kenntnisse, die für die ganze Gesellschaft entscheidend sind, sind kein Allgemeingut. Die Gesellschaft aber braucht ihre Kinder. Alle brauchen Kinder, auch die, die keine haben oder wollen. Kinder brauchen keine Hierarchien, in denen ihre Gefühle an letzter Stelle stehen.

Die Akzeptanz eines Rangsystems ist der erste Schritt zu sozialer Dominanzorientierung, nachgewiesen in tausenden Studien. Von hier ist der Weg zu Autoritarismus nicht weit.

 

Und später? Wenn das Kind schon lange gelernt hat, das bestimmte Gefühle nicht okay sind? Wohin mit der Angst? Mit Verunsicherung? Mit Scham? Wenn man nicht weiß, dass es solche Gefühle gibt, dass jeder sie hat? Das es hilft, darüber zu sprechen mit jemand, dem man vertrauen kann? Was macht ein Mann mit seinen Gefühlen, wenn er eine schöne junge Frau sieht? Oder einen schönen jungen Mann? Was macht eine Frau?

 

Welche Verhaltensoptionen stehen uns gesellschaftlich zur Verfügung?

 

Der Weg in eine gerechtere und liebevollere Welt ist voller nerviger Kinder. Ich glaube, alle sollten viel mehr mit Kindern zu tun haben. Um sie zu verstehen. Um Gefühle zu verstehen. Um Eltern zu verstehen. Um sich selbst verstehen zu lernen. Um den Graben zwischen Menschen mit und ohne Nachwuchs zu verkleinern. Um den Graben zwischen Männern und Frauen zu verkleinern. Um den Graben zwischen Kindern und Erwachsenen zu verkleinern. Und um miteinander über Gefühle zu sprechen. Am besten über alle Gefühle.

 

Es gibt ein schönes Projekt in England. Eine Mutter kommt mit ihrem kleinen Baby immer in die gleiche Klasse einer Schule, in regelmäßigen Zeitabständen. Die größeren Kinder sehen den Entwicklungsfortschritt des Kleinen. Sprechen darüber, wenn es weint. Warum es weint. Versuchen, es zu trösten. Und sie sprechen dabei darüber, wie sie selbst sich fühlen. Was sie traurig macht oder glücklich.

 

Das wäre sicher auch für Chefetagen, Börsenunternehmen, Metallbearbeitungsbetriebe, Chemieriesen, IT-Gesellschaften ein interessantes Projekt. Gottseidank gibt es ja immer mehr Männer, die den eigentlichen Stellenwert eines Kindes erkennen lernen.

 

Kinder sind kein fremdes, mysteriöses Völkchen von einem anderen Stern. Es sind immer wir selbst. Wenn wir in ihre Augen schauen, sehen wir uns. Das Gehirn ist ein sensibles, wunderbares Organ, das uns, wenn es gedeihen kann, viel Freude macht. Und wenn wir es versauen, viele Probleme.

 

In New York wird zur Zeit der Mordfall an zwei Kleinkindern behandelt. Ihre Nanny hat sie erstochen. Die Staatsanwältin hat den Geschworenen gesagt, man werde nicht nach dem Motiv suchen, weil es wahrscheinlich keines zu finden gebe.

 

Unvorstellbar ist diese Tat, die Leila Slimani zu ihrem Bestseller „Dann schlaf auch du“ inspiriert hat. Dafür hat sie den Prix Goncourt bekommen, das ist einer der wichtigsten Literaturpreise in Frankreich.

 

Die Traumatherapeutin Dami Charf bloggt auf ihrer Seite für Menschen mit Entwicklungstrauma. Ein Entwicklungstrauma entsteht, wenn jemand im Kindesalter über lange Zeiträume nicht adäquat betreut wurde. Sie meint – und ich teile diese Ansicht – dass Entwicklungstraumen eigentlich eine Volksseuche seien. Dami Charf bespricht viele wichtige Gefühle und hilft Menschen, mit aus solchen Kindheitserfahrungen resultierenden Dysfunktionalitäten zurecht zu kommen. In einem Vlog erzählt sie vom Unterschied zwischen Wut und Rage. Wut ist Wut. Rage beinhaltet Zerstörungsenergie. Immer wieder geht es darum, Zeit zwischen einen Reiz und eine Reaktion zu bekommen.

Ich weiß natürlich nicht, weshalb diese Nanny das gemacht hat. Aber wenn ich die Berichte dazu lese, denke ich immer wieder an eine Überlastung, an einen Moment der Unzurechnungsfähigkeit.

 

Als mein Sohn ein Baby war, wurde im Nachbarort ein kleiner Junge von seinem Stiefvater erschlagen. Der Mann war mit einem Bauernhof mit Viehbetrieb und zwei kleinen Kindern ganz alleine.

Das rechtfertigt nichts, ich weiß.

 

Aber wer selbst mit alten Dämonen kämpfen muss, verliert eher die Kontrolle. Akuter Stress verstärkt die Konnektivität zwischen dem frontalen Kortex und den motorischen Arealen.

 

In einem (jetzt doch recht lang gewordenen) Blogbeitrag kann ich nicht die Infos aus tausend Seiten Hirnphysiologie zusammenfassen. Aber es wäre wert, dass man darüber nachdenkt, wie man den empfindlichsten Geschöpfen gerecht wird, deren Hirn gerade erst heranwächst. Deren Impulskontrolle sich in der Entwicklung befindet. Deren Amygdala man auf keinen Fall größer machen will, als sie es vielleicht schon ist.

 

Seid nett zu Kindern. Und zu ihren Eltern.

 

Hier noch ein Link zu Dami Charf:

https://www.traumaheilung.de/trauma-und-kinder/