Ich kenne eine alte Dame und ich kenne sie sehr gut.
Nennen wir sie Anna. Anna ist als Kind nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Mutter aus dem Osten in die Bundesrepublik geflohen. Anna ist ein Flüchtling.
Niemand mag Flüchtlinge.
Auch die aus Hiroshima oder Nagasaki atomar rausgebombten Japaner und Japanerinnen waren im Rest ihres Landes alles andere als willkommen.
Alle wissen: Flüchtlinge sind geflüchtet.
Sie haben alles verloren. Sie besitzen nichts. Jemand der alles verloren hat, hat nichts mehr zu verlieren. Wahrscheinlich fürchten die Leute genau diesen Umstand.
Anna, von der ich erzählen will, ist also ein Flüchtling und sie hatte damals etwas zu verlieren:
Ihre Mama Tila.
Anna war sieben Jahre alt, als sich folgende Geschichte zutrug.
Polnische Soldaten hatten den Flüchtlingstreck angehalten, um sich ein paar Frauen auf den Lastwagen zu laden.
Was wollten sie mit den Frauen?
(Mal es dir selbst aus. Wahrscheinlich entspricht das Schlimmste, was du dir ausmalst, der Wahrheit am ehesten.)
Die Soldaten entdeckten auch Annas Mama Tila.
Ein junger Soldat packte Tila am Arm und lud sie auf den Lastwagen.
Und Anna fing an zu schreien.
Sie schrie, so laut und so lange, bis sie nicht mehr konnte und dann schnappte sie nach Luft und schrie weiter. Sie schrie und schrie, sie konnte nicht mehr aufhören zu schreien.
Der junge Soldat hielt das Geschrei nicht aus.
Er stellte sich vor Anna und zielte mit seinem Gewehr auf sie.
Die Frauen um Anna herum, ältere Frauen, sie packten Anna und schrien sie an, hauten ihr eine runter:
Anna, hör auf zu schreien!
Der erschießt dich!
Anna schrie weiter. Sie war von Angst gepackt, sie hatte einen Schreikrampf, sie konnte nicht aufhören zu schreien.
Alles, was sie hatte, war fort.
Das Zuhause verbrannt,
der Vater gefallen,
der Bruder verschollen,
und nun sollte die Mama verloren gehen.
Und die Soldaten ließen Annas Mutter Tila vom Lastwagen.
Damit Anna aufhört zu schreien. Der junge Soldat hatte es nicht über sich gebracht, ein Kind zu erschießen.
Noch heute wacht Anna nachts auf von ihrem eigenen Schreien.
Anna ist heute 83 Jahre alt.
Anna ist meine Mama und Tila war meine Oma. Ich habe diese Geschichte unzählige Male gehört. Unzählige Male.
Niemand wollte die Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Das Land war kaputt und man hatte selber nichts. Aber Anna und Tila haben es hinbekommen. Anna heiratete und bekam Kinder.
(Alle arbeiten und zahlen Steuern. Nette Leute.)
In der genetischen Forschung zeigt man heute auf vielfache Weise, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden können. Stress und Angst können epigenetisch wirksam sein.
Manchmal steht mein Sohn vom Spiel plötzlich auf, rennt durch die Wohnung und sucht mich. Schnell findet er mich, er umschlingt meine Beine, hält sich fest und muss lange gedrückt werden.
Dann sagt er: Ich dachte, du wärst weg.
Ich streichle ihn und frage, wo soll ich denn sein?
Und er sagt: Weg.
Ich weiß nicht, ob das etwas bedeutet.
Aber ich weiß, dass man Kinder bei denen lassen muss, denen sie vertrauen, die sie lieben und sich um sie kümmern.
Und ich weiß, dass meine Oma sicher lieber mit Anna zuhause auf dem sicheren Hof geblieben wäre, wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Aber sie hatte keine Wahl. Man macht sich nicht auf den Weg durch und hinein ins Ungewisse, wenn man eine Wahl hat.
Man möchte seine Kinder schützen. Man möchte sie in Sicherheit wissen.
Stell dir vor, du musst fliehen und kannst nirgendwo hin.