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Als ich einen nackten Mann traf

Im April 2015 machte ich am frühen Morgen einen Spaziergang mit meinem damals anderthalb Jahre alten Sohn. Ich war übernächtigt, mein Sohn topfit. Meine Hoffnung war, dass er einschlafen würde und ich dann auf einem diskreten Bänkchen noch ein Nickerchen machen könnte. Plötzlich kam ein Mann auf mich zu. Es war gut für ihn, dass es recht früh war, denn so waren keine Menschen unterwegs.

Der Mann trug eine Jacke und ein Hip-Bag. Sonst nichts.

Ich verlangsamte meinen Schritt.

Er auch.

Er rief:

„Entschuldigen Sie bitte!“

 

Da ich in einem Touristenort lebe, sind Ortsunkundige nichts Ungewöhnliches. Der Mann sah schlecht aus, übernächtigt und alkoholisiert.

 

Ich war entsetzt/ sprachlos/ dachte, da sitzt mein kleiner Sohn im Kinderwagen/hört mich jetzt jemand, wenn ich schreie/ wo sollen wir hin/ der Mann sieht irgendwie armselig aus/ der tut uns nichts/ dem ist was Blödes passiert.

Dann sagte der Mann von weitem:

„Das hier ist ein Junggesellenabschied, die da hinten“ – und er deutete auf eine Gruppe von Männern, die ich erst jetzt sah, die sich in einem Vorgarten verborgen hatten – „wollen, dass ich Sie frage, ob Sie und Ihr Sohn sich eventuell fotografieren lassen würden?“

 

Dem Mann war die Sache sichtlich unangenehm. Ich meinte, an seinem Gesichtsausdruck ablesen zu können, dass es seine persönlichen Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten schien, eine Frau mit einem Kleinkind nackt anzuquatschen. Die Männergruppe stand etwas weiter weg, kicherte, einer versteckte sich hinter dem anderen.

 

Warum erzähle ich das?

 

Mir begegnet im Rahmen der #metoo-Debatte von Männern eine bestimmte Argumentation. Sie äußern sich in Foren in der FAZ, dem Spiegel, der Süddeutschen, you name it, dass all diese Frauen, , wenn sie über ihre Erlebnisse berichten und erklären und erläutern wollen, wie es ihnen geht, einen großen sträflichen Fehler begingen:

 

Diese Frauen würden VERALLGEMEINERN,

sie pauschalisieren, sie SCHEREN ALLE MÄNNER ÜBER EINEN KAMM,

und es wären ja gar nicht alle Männer so schlimm.

 

Wie könnte frau dieses Problem lösen?

Frau könnte schreiben:

Also, ich habe mit Männern schlechte und sexuell diskriminierende Erfahrungen gemacht, aber ich meine damit nicht den Andreas, den Klaus, den Micha, den Fred und den Jonas und die anderen, die niemals eine Frau sexuell diskriminiert oder schlecht behandelt oder geschlagen oder bedroht haben. Die sind okay.

 

Neulich habe ich auf Netflix die Show „Nanette“ von Hannah Gadsby geguckt. Hannah Gadsby ist eine Lesbin. Sie sieht von weitem aus wie ein Mann und sie ist dick. Sie kommt aus Tasmanien und ist in einer Zeit großgeworden, in der 70% der dortigen Bevölkerung Homosexualität für ein Verbrechen gehalten haben.

Dadurch dachte auch sie selbst, Homosexualität sei ein Verbrechen.

Problematisch, wenn man irgendwann bemerkt, dass man selbst homosexuell ist. Sie sagt, sie habe dadurch Homophobie verinnerlicht.

Hannah Gadsby macht seit Jahren Comedy über ihre eigene Randgruppe und über ihre Erlebnisse. In „Nanette“ aber macht sie deutlich: Das will sie nicht mehr. Denn ihr ist bewusst geworden: damit erniedrigt sie sich selbst: „It’s not humility. It’s humiliation“ (Es ist keine Demut. Es ist Demütigung).

 

Demütigung bewirkt Scham.

 

Scham in einem Kind zu wecken verhindert Lernmöglichkeiten. Das haben Neurowissenschaftler bewiesen. Scham wirkt hier wie Furcht: Wir erstarren, ducken uns, rennen weg, fürchten uns, Überlebensmechanismen setzen ein, die eine konstruktive Auseinandersetzung verhindern. Im englischsprachigen Raum ist Nanette eine Sensation, in Deutschland habe ich bislang zwei Artikel dazu gefunden:

 

https://www.derstandard.de/story/2000082905315/gadsbys-ernste-comedy-show-nanette-auf-netflix-lesbenwitz-zieht-immer

 

https://ze.tt/comedian-hannah-gadsby-haut-dich-mit-nanette-auf-netflix-um/

 

Beim ersten Link gibt es einen Diskussionsthread, daraus habe ich folgende Kommentare kopiert:

 

„Da ist sie gegen Sexismus und stellt gleichzeitig alle weißen Männer als Homogenes Kollektiv da das unermüdlich Frauen unterdrückt. Langsam bekommt man den Eindruck offener Sexismus gegen weiße Männer wird in der feministischen Szene nicht nur geduldet sondern sogar explizit verlangt. Was würde passieren wenn jemand einfach alle weißen Frauen über einen Kamm schert und ihnen vollkommen abstruse Dinge unterstellt?

 

„Nein, alle weißen Männer haben sich nicht zusammengetan und irgendwelche diskriminierenden Regeln gemacht. Das zu behaupten ist Sexismus. Ich bin ein weißer Mann und hab noch nie jemanden niedergemacht, für das, was er/sie/inter/wasauchimmer ist. Im Gegensatz zu Frau Gadsby.“ 

 

Weiße Männer kommen nicht gut weg in Gadsbys Comedy-Show. Die beiden Kommentare benutze ich repräsentativ.

 

Ich weiß, dass Andreas, Klaus, Micha, Fred und Jonas und die anderen, die niemals eine Frau sexuell diskriminiert/ schlecht behandelt/ geschlagen/ bedroht haben, da echt ungerecht behandelt werden von Hannah Gadsby.

 

Der Junggeselle, der mit nacktem Schniedel an mich und meinen Sohn herantrat, ist bestimmt nett zu seiner künftigen Frau. Dennoch hat er in der Männergruppe, mit der er unterwegs war, Mist gemacht. Er hat sich nicht widersetzt, er wollte das Späßchen mitmachen, wollte kein Spielverderber sein. So wie Millionen andere Männer auch. Jeder Mann hat einen Kumpel, der es manchmal etwas übertreibt. Und dann ist noch Alkohol oder sonstwas im Spiel und

Zack! Hat man sich daneben benommen. Ist ja nichts passiert.

 

Genau diese Konstellationen sind es, die die Basis der Machtverhältnisse darstellen. Wenn Männer einander nicht deutlich machen, dass ein bestimmtes Verhalten total daneben ist. Wenn sie einander nicht sanktionieren, sondern im Grüppchen zusammenhalten. Das nennt sich oft „Männerfreundschaft“.

Frauen und Feministinnen haben Männer um das Unbedingte dieser Qualität von Freundschaft beneidet. Ich finde gute Freunde super. Aber hier liegt auch das Problem: Mitzutragen, wenn der Freund absoluten Mist macht. Und das machen natürlich nicht nur Männer. Auch Frauen wirken an dieser Art von falscher Solidarität und moralisch falsch verstandener Freundschaft mit und es ist genauso scheiße.

 

„Take sides. Neutrality helps the opressor, never the victim.“

Elie Wiesel

 

Es ist nicht okay, nichts zu tun oder darüber zu lächeln, wenn dein Kumpel eine Kollegin befummelt/von der Seite anmacht/ihr Inkompetenz unterstellt/sie unterbricht/ihr Emotionalität oder Hysterie unterstellt/ungebetene Ratschläge erteilt/auf die Kürze ihres Rocks hinweist/die 17-jährige Praktikantin /Kellnerin /Masseurin /Friseurin anbaggert /mit seiner Oberstufenschülerin /Studentin oder einer anderen Frau, mit der ein Abhängigkeitsverhältnis besteht (z. B. Zwangsprostituierte oder Frauen, die sich aus einer persönlichen Notsituation heraus prostituieren müssen), anbandelt.

 

Es ist nicht okay.

 

Und wenn ein Mann weiß, dass sein Kumpel sowas macht und es duldet, ist das ein Zeichen, dass er es eben doch okay findet oder zumindest duldet und nicht darauf hinweist und nicht sanktioniert und es die Freundschaft nicht in Frage stellt. Und wenn Andreas, Klaus, Micha, Fred und Jonas und die anderen all das unterschreiben können, das sie all diese Verhaltensweisen aufzeigen und sanktionieren, dann haben sie Recht, und sie dürfen nicht über einen Kamm geschoren werden.

 

Warum wollte der nackte Mann überhaupt ein Foto mit mir und meinem Sohn?

 

Es war – so erkläre ich es mir, ich habe es nicht weiter erörtert – wohl für die Zukünftige, ein netter Lacher bei der Party, wenn man Fotos zeigt, was sich der Mann so alles geleistet hat und doch hat er eine liebe Frau gefunden, die ihm all das verzeiht.

Wie witzig!

Sie verzeiht ihm, anderswo ein Kind in die Welt gesetzt und eine Frau damit allein gelassen zu haben.

Ich lach mich kaputt.

Was für ein toller Kerl, ein echter Hecht.

 

Jetzt geht es mir wie Hannah Gadsby, ich werde gefühlsduselig und dann kann ich nicht mehr rational argumentieren.

 

Das ist das Wichtigste: Rational bleiben.

 

Nur mit rationalen Argumentationsketten kommen Männer klar, nur die lassen sie gelten (außer, naja, Andreas, Klaus, und die anderen).

 

Ansonsten suchen sie sich einen schwachen Punkt, picken ihn sich heraus und sagen zum Beispiel:

 

„Ich bin ein weißer Mann und habe noch nie jemanden niedergemacht“ und plopp!

 

Sind sie raus aus der Nummer. Nun muss die ganze Argumentation falsch sein und die Frau hat ihre ganze Meinung auf falschen Prämissen aufgebaut.

 

Ganz schön praktisch.

 

Die Psychotherapeuten Rosemarie Piontek und Björn Süfke sprechen in dem Buch „Typisch Frau typisch Mann? über gendertypische Bewältigungsstrategien, die von unterschiedlicher Sozialisation herrühren. Süfke, der sich auf Therapien mit Männern spezialisiert hat, sagt, Männer rationalisieren, Süfke nennt es „Gefühlsabwehr“.

 

Spätestens bei der Betreuung eines Kleinkinds ist es vorbei mit der Gefühlsabwehr. Weswegen es so wichtig wäre, dass Männer sich verstärkt mit dieser Art von zwischenmenschlicher Beziehung befassen. Ein Kleinkind argumentiert nicht. Es drückt auf die Gefühlstaste bis zum Umfallen.

Da hilft es nicht zu sagen, Kind, du bist ja völlig unlogisch, deine Argumentationskette hat üble Lücken.

Nope.

Da muss man, um an wenigstens ein, zwei Minütchen Ruhe oder Schlaf oder Erholung zu kommen, auf Gefühle reagieren. Trösten, obwohl man beinahe umkippt vor Hunger. Obwohl man echt unbedingt aufs Klo muss. Obwohl man denkt, auszuflippen, wenn man jetzt nicht auf der Stelle einen vollständigen Satz mit einem Erwachsenen Menschen wechseln kann.

 

 

Ich bin gespannt, was der nackte Mann denkt, wenn seine Frau nachhause kommt, wenn sie ihr erstes Kind haben. Und dann bricht sie übermüdet in hysterische Tränen aus. Sie erzählt ihm, ein nackter Mann habe sich ihr und ihrem Kind genähert. Seine Freunde hätten sich versteckt. Der Mann habe sie gefragt, ob er mit und ihr und ihrem Kind ein Selfie machen dürfe. Dann packt sie heulend ihren Busen aus, um das Kind zu stillen. Findet der Mann bestimmt okay. Und seine Frau ist halt ein bisschen emotional.