Mit Anfang zwanzig habe ich „American Psycho“ von Bret Easton Ellis gelesen.
Das ist ein furchtbar brutales Buch, dessen Beschreibungen von Brutalität meine persönlichen imaginären Fähigkeiten im Bezug auf das gedankliche Erschaffen von Brutalität bei weitem überstieg. Niemals wäre ich in der Lage gewesen, mir sowas auszudenken. Ich hatte Alpträume danach. Insofern hat mir dieses Buch Leid angetan.
Ich habe es freiwillig gelesen, kein Mensch hat mich dazu aufgefordert. Und ich war volljährig.
(Zwar, so heißt es, ist der Frontallappen als hypothetischer Sitz der Persönlichkeit, der Moral und des Gewissens erst mit Mitte Zwanzig einigermaßen ausgereift, aber ich will darum geht es mir nicht.)
Seit vielen Jahren bin ich Buchhändlerin.
Mancher Kniff der Lektoren und Autoren bleibt einem nicht verborgen.
Etwa der, einen Krimi mit einer kurzen Cliffhanger-Szene zu eröffnen.
Man nehme eine schöne junge Frau oder ein Kind, bringe dieses Opfer in eine ausweglose Situation mit viel Gewalt und breche dann ab, um die Erzählung zu beginnen.
Dieses ganze Stieg Larsson Zeug war mir too much. Es war ewig in den Bestsellerlisten und lag monatelang in den Buchhandlungen auf den Kassentischen. Die Leute kauften das und sagten zueinander: „Hast du das gelesen? Das ist so krass!“ Und ich wollte immer sagen, Leute, das ist total krankes Zeug.
Ich fand es echt krank. Ich weiß, Lisbeth Salander wehrt sich und alles, aber ich habe so die Schnauze voll von der sinnlosen Verbreitung von Gewaltdarstellungen.
Diese Gewalt ist ätzend.
Sie nervt.
Mich.
Darüber hinaus finde ich sie gefährlich.
Es ist bescheuert, Köpfe mit verschiedenen Möglichkeiten von Gewalttätigkeit zu impfen. Auf Arte läuft gerade ein Film über die „Cleaner“, das sind Leute, die von Google, Facebook und anderen großen Internetunternehmen über Drittfirmen angeheuert werden, um sich grenz wertige Inhalte anzuschauen und sie gegebenenfalls zu löschen.
Diese Leute sind schlecht bezahlt und in kurzer Zeit schwerst traumatisiert, weil sie die von Usern auf der ganzen Welt hoch geladenen Gewaltbilder kaum oder gar nicht verarbeiten können.
In Ländern überall auf der Welt zwingen Männer Frauen dazu, in Pornos dargestellte Inhalte nachzustellen. In Deutschland haben gerade Kinder Kinder vergewaltigt.
Wenn man keine Vorstellung davon hat, welche Formen von Gewalt ausgeübt werden können, denke ich, ist die Gewalt vielleicht nicht so massiv, grausam und ausgeklügelt. Sicher gibt es dennoch Gewalt und Leid, keine Frage.
Aber man sollte Menschen vor sinnloser Darstellung von Gewalt schützen. Egal, ob filmisch oder literarisch - oder, wie in Kriegszeiten, gar real.
Neulich habe ich meinen Sohn vom Kindergarten abgeholt. Die Erzieherinnen nahmen mich zur Seite und erzählten, der XY habe heute meinen Sohn gewürgt.
Gewürgt.
(Don't worry, ihm geht es gut.)
Alle kleinen Kinder hauen. Sie werden sauer, heben die Hand und patschen zu, oder sie beißen oder kratzen, weil sie wütend sind. Das sind irgendwie natürliche Impulse.
Würgen - weiß ich nicht.
Ich nehme an, XY hat irgendwo gesehen, dass man würgen kann.
Und es dann gemacht.
XY ist ein sehr nettes und vollkommen normales Kind.
Ich frage mich, ob es besser gewesen wäre für ihn und meinen Sohn, wenn beide die Tätigkeit des Würgens nicht so früh in ihr Vorstellungsrepertoire hätten aufnehmen müssen.
Es gab in den Neunzigern eine Talkshow, ich glaube auf RTL, die nannte sich „Der heiße Stuhl“. Da saß einer, der eine Meinung hatte und wurde konfrontiert mit fünf Leuten, die eine andere Meinung hatten. Einmal saß Angela Merkel auf dem Einzelstuhl und fand, weniger Gewalt in der Kunst. Und ihr gegenüber saß unter anderem Christoph Schlingensief, und der fand, Kunst darf auch ganz viel Blut.
Und, ja, ich gebe es zu, seit ich ein Kind habe, finde ich, Angela saß auf der richtigen Seite.
Solange nicht gewährleistet ist, dass jemand vor dem Anblick zuverlässig geschützt werden kann, keine Gewalt.
Denn auch der Anblick bestimmter Bilder oder das Lesen bestimmter Schilderungen ist Gewalt, ist das Zufügen von Leid.
(Was wohl geschähe, wenn man überall auf der Welt zu wütenden Menschen sagen würde, boah, du bist echt sauer. Geh mal joggen/den Garten umgraben/ein Bild malen/eine Statue bildhauern/Rachmaninow auf dem Klavier spielen/etc., ...dann geht es dir gleich wieder besser...?)