
Houellebecq hat wieder ein Buch rausgebracht. Kultautor sei er, seherisch sei er, ein enfant terrible, Prix Novembre, Prix Goncourt, Prix dies, Prix das.
Ich schlage auf.
Auf der zweiten Seite lese ich vom in „hautenge Minishorts eingegossene(n) Hintern“. Nichts gegen Minishorts.
Ich muss es nicht lesen, es verkauft sich von allein. Sofort schoss es im Januar auf Platz 1 der Bestsellerliste.
(Gibt es als Äquivalent zur despektierlich so genannten Chick-Lit eigentlich auch Dick-Lit?)
Eines meiner Lieblingsbücher heißt „Stoner“.
Geschrieben wurde es in den 60ern von John Edward Williams. 2013 wurde es als ‚beglückende Wiederentdeckung‘ in Deutsch herausgebracht. Zum „Glutkern des Seins“ dringe das Buch, und Stoner wurde in den Feuilletons gar mit Melvilles „Bartleby“ verglichen. Ich kenne keinen Menschen, der das Buch gelesen hat und Stoner nicht liebt.
Stoner ist Kind einer Bauernfamilie und wird zum Studium der Landwirtschaft an die Uni geschickt. Dort entdeckt er seine Liebe zu Shakespeare und studiert heimlich Literatur, obwohl er damit die Wünsche seiner Eltern verrät. Stoner ist liebenswert und so nachvollziehbar in seiner Suche nach Glück, dass man fast weinen muss, wenn die letzte Seite da ist. Ich habe das Buch oft verschenkt und noch öfter empfohlen. Heute will ich aber mal nicht über Stoner sprechen, sondern über seine Gattin Edith.
So wie es das Leben für junge amerikanische Menschen vorsieht, heiratet Stoner. Er entdeckt Edith auf einer Gesellschaft und setzt alles daran, sie kennenzulernen. Edith ist zwanzig Jahre alt und hat vor, mit ihrer Tante nach Europa zu fliegen, als sie drei Wochen vor der geplanten Abreise Stoner kennenlernt. Stoner erfährt von dieser Frist und beschließt daraufhin, Edith in diesen drei Wochen so häufig wie möglich zu sehen.
Der Vater von Edith hätte lieber einen Sohn gehabt. Das ist wenig überraschend und war vermutlich überall so. In China fehlen 30 Millionen Frauen – weil die Eltern lieber Jungs haben wollen und die Mädchen abgetrieben werden. Zurück zu Edith.
Als Stoner und Edith sich kennenlernen, beschreibt Williams:
„She continued to talk and after a while he began to hear what she was saying.“ Allein dieser Satz ist für mich nobelpreisverdächtig.
Als der Abend vorüber ist, kommt sie ihm fremder vor den je, obwohl sie ihm die ganze Zeit von sich erzählt:
„He felt that they were strangers in a way that he had not thought they would be, and he knew he was in love.“
Ich glaube, hier geht es um das vielgepriesene sogenannte „Ungewisse“, das Männer so sehr schätzen, wenn sie eine interessante Frau kennenlernen. Das Ungewisse der Liebe, die Möglichkeit der totalen Projektion und so der vollkommenen Formung des Wesens, das man begehrt.
Er hält um ihre Hand an und Edith sagt ja. Die Eltern sind einverstanden, niemand wird zu etwas gezwungen. Edith ist gut erzogen und auf das vorbereitet worden, was man von ihr erwartet. Als die Mama von Stoner ihre künftige Schwiegertochter kurz vor der Hochzeit kennenlernt, bittet sie Edith, ihrem Sohn eine gute Frau zu sein und Edith verspricht es. Die Sterne stehen hervorragend. Der Leser und die Leserin lieben Stoner. Und nun hat er eine feine Frau gefunden. Juhu!
Ich habe eine kleine private Umfrage gestartet und Leute, die das Buch gelesen haben, gebeten, mir zu erzählen, OB sie sich an Edith erinnern und WIE.
„Weiß ich nicht mehr. Keine nette Frau.“
„Ich weiß nicht mehr genau. Nicht gut. Nicht nett irgendwie.“
„Neurotisch.“
„Edith? Wer war das nochmal?“
„Nie zufrieden. Der macht ja alles für sie und sie macht ihm das Leben zur Hölle.“
Niemand erinnerte sie positiv.
Die Ehe wird ein Alptraum für beide, obwohl keiner dem anderen etwas Böses will. Beide sind unberührt, aber Stoner kommt von einem Bauernhof und ist mit „den Dingen des Lebens“ vertraut.
Edith nicht.
In der ersten Nacht geschieht nichts.
In der zweiten Nacht helfen beide mit Champagner nach.
Edith legt den Arm über die Augen und wartet, bis es vorbei ist.
„Within a month he knew that his marriage was a failure; within a year he stopped hoping that it would improve.“
Edith will schließlich ein Baby. Sie hofft durch ein Kind so sehr auf Erfüllung. Sie wird bekommt ein Baby, doch die Erfüllung bleibt aus. Sie vernachlässigt das kleine Mädchen, nicht aus Boshaftigkeit, sondern eher aus Desinteresse. Stoner kümmert sich also – fast progressiv – in seiner Freizeit um das Kind und geht ansonsten an die Uni (– es entsteht der Eindruck, es wäre möglich, sich nebenher mal so um ein Kind zu kümmern. Aber es gibt eine Kinderfrau, sie wird in einem Nebensatz erwähnt.)
Edith sucht nach sich. Es ist tragisch zu sehen, dass sie in ihren frühen Jahren so verformt worden ist, dass es ihr kaum gelingen kann. Ohne es benennen zu können, ist ihr ein Anspruch, eine Vision, eine Haltung eingepflanzt worden, etwas, das sie zu erfüllen wünscht, aber nicht erfüllen kann, weil es ihr einfach nicht entspricht.
Einem Kind mitzugeben, es habe etwas zu wollen, was es nicht will, bringt Scham in ihm hervor. Das Gefühl der Scham verhindert die Ausbildung neurologischer Verknüpfungen, die mit Selbstliebe konnotiert sind.
Edith macht ihren Mann Stoner für ihr Unglück verantwortlich und beginnt, ihn mit Leidenschaft zu hassen. Stoner ist ein angenehmer Mann, er hat einen guten Beruf, er ist sensibel und liebevoll. Und so beginnen die Lesenden, Edith zu hassen, sie ist eine Bitch, warum kann sie ihn nicht in Ruhe lassen? Edith sieht ihren Mann, der einfach SEIN darf. Der Literatur liebt und die Uni, der einem Leben nachgeht, dass okay ist. Ihr einfach SEIN dürfen bleibt ihr von Anfang an verwehrt. Deshalb wird sie eine Bitch, ein Besen, eine verbitterte Frau. Das ist eine Beobachtung, die man immer wieder machen kann.
Unglückliche Leute machen andere unglücklich.
Annie Ernaux ist, wie der alte Hollerbeck, auch aus Frankreich und sie hat das Buch geschrieben, das die Aufmerksamkeit verdient hätte, die der Hollerbeck bekommt: „Erinnerung eines Mädchens“ heißt es und beschreibt direkt das Problem, das Frauen wie Edith haben:
„Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinanderzuschlagen, eine Zigarette anzuzünden. Die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Sie können nicht mithalten mit dem Willen des Anderen. Er ist ihnen immer ein Stück voraus.“
Das geschieht, wenn Menschen zu etwas erzogen werden, anstatt einfach sein zu dürfen. Sie reagieren auf den Anderen wie eine Kompassnadel auf den Nordpol.
Bei den Ergebnissen meiner privaten Umfrage zu Edith Stoner musste ich noch an eine weitere Frauenfigur denken: Skyler White.
Sie ist die Frau von Walter White, der Hauptfigur aus „Breaking Bad“, einer der spektakulärsten Serien der letzten Jahre. Walter White ist ein Chemielehrer, der eine Krebsdiagnose bekommt. Weil er einen Sohn mit körperlicher Beeinträchtigung hat und seine Frau unerwartet noch einmal schwanger geworden ist, macht er sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie und versucht, durch das Kochen von Crystal Meth und dem tiefen Einstieg in die örtliche Drogenszene schnelles Geld zu machen, um seine Familie versorgt zu wissen (und um seine Medikamentenrechnungen bezahlen zu können).
Vor seiner Frau Skyler verheimlicht er seine Aktionen, bei denen er sehr bald über sehr viele Leichen geht. Skyler wird misstrauisch und auch sie wird - so ähnlich wie Edith – zur Bitch. Sie erduldet nicht einfach, sie handelt. Sie beißt zurück, sie geht fremd, sie lebt und versucht, ihre Kinder zu beschützen. Anna Gunn heißt die Schauspielerin, die die Skyler verkörpert und sie hat 2013 einen Text für die New York Times geschrieben über die Hasswelle, die über Skyler hinweggerollt ist. In den sozialen Netzwerken wird auf eigens dafür eingerichteten Accounts Skyler White kollektiv verabscheut. Da es verblüffend viele Menschen gibt, die Filmrollen und die dazugehörenden Schauspieler nicht auseinanderhalten können, betraf dieser Hass schnell auch Anna Gunn.
„At the end of the day, she hasn’t been judged by the same set of standards as Walter“, schreibt Gunn. Sie weiß, dass der Hass auf Skyler ein Zeichen dafür ist, wie starke Frauen gesellschaftlich begriffen werden.
Wir brauchen Filme und Bücher, in denen uns gezeigt wird, wie es Edith und Skyler geht.
Chimananda Ngozi Adichie sagt, wie wichtig verschiedene Geschichten sind, aus unterschiedlichen Perspektiven, um allen Menschen gerecht zu werden. Nur wenn wir ihre Geschichten kennen, können wir Menschen verstehen, was sie bewegt und antreibt. Je mehr Geschichten wir kennen, desto besser können wir uns selbst verstehen.
Ich brauche keinen Houellebecq mehr. Ich will Margaret Atwood und Annie Ernaux. Ich wünsche mir Bücher und Perspektiven von Frauen. Ich will nicht mehr lesen müssen, etwas sei schamlos und selbstentblößend, weil Umstände benannt werden, die man sonst unter dem Deckmantel der Diskretion verbirgt.
Diskretion verbirgt fast immer etwas, was Frauen schadet.