Der erste Kalender der Welt ist ein einfacher Stock mit 28 Kerben.
Irgendwann wird eine Frau gemerkt haben, dass sie alle 28 Tage blutet. Wenn sie nicht blutete, stand Nachwuchs ins Haus (oder in die Höhle). Evolutionsbiologen zufolge wurde das Baby in der Sippe großgezogen. Die Gruppe war auf die Mutter fokussiert, weil sie etwas Magisches vollbracht hatte: Einen Menschen geboren. Sie wurde nach der Niederkunft betreut und beschützt, das Kind getröstet, wenn es schrie.
Der brüllende Zwerg brachte mit seinem Geschrei sich selbst und die Gruppe in Gefahr, indem er lautstark Fressfeinden klarmachte:
Hier! Kommt alle her! Gibt was zu fressen! MICH!
Die ersten Abbildungen von nackten Frauen mit großen Brüsten sind keine Sexbildchen für Neandertaler, sondern Segnungen eines Wunders. Man wusste um den evolutionsbiologisch hohen „Preis“ eines Lebens. In traditionellen Kulturen werden frischgebackene Mütter von ihren weiblichen Verwandten versorgt, so dass sich die Gebärenden rundum geborgen wissen und sich ihrem Baby zuwenden können.
Ein Steinzeitkind wusste, wie eine Vulva und ein Busen aussehen und welchen Zweck sie erfüllen. Das Bild einer Stillenden war das Normalste der Welt. Der Körper einer Frau war keine – pardon! - Wichsvorlage, sondern ein Leib, der Babys gebären und nähren kann.
Die Frau wählte den Mann aus, mit dem sie schlafen wollte. Sie wusste, dass ein Kind entstehen kann. Sie hatte Niederkünfte gesehen. Sie hatte Freude, Glück, Schmerz und Tod in diesen Zusammenhängen gesehen. Sie war vorbereitet. Liebende Frauen halfen ihr.
Vor wenigen Tagen wurde in Rostock ein totes Baby gefunden. Es war unmittelbar nach der Geburt von der Mutter ausgesetzt worden.
Krimis sind ein Top-Genre in Literatur, Film und Fernsehen. Hier ist die Welt berechenbar. Kriminelles Verhalten werten wir als abweichend, abartig oder furchterregend. Die Grenze zwischen normal und abnorm lässt sich gut zu einem Kampf zwischen Gut und Böse umdeuten. Sehr schön und easy. Man muss nicht zu sehr nachdenken, es braucht keinen Sinn für Komplexität, Nuancen oder Subtilitäten.
Der Realität wird man damit nicht gerecht.
Michelle Oberman und Cheryl Mayers sind zwei amerikanische Akademikerinnen. Im Ohio Reformatory Frauengefängnis haben sie sich mit Insassinnen unterhalten, die ihre eigenen Kinder getötet haben.
Diese Geschichten sind unendlich traurig. Für jede der Täterinnen waren Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch alltägliche Erfahrungen. Viele hatten bereits als Teenager schon mehrere Schwangerschaften hinter sich. Sie haben im Affekt getötet oder die Kinder starben später durch Misshandlung oder Vernachlässigung. Die Frauen erzählten in den Interviews fast nichts über die Erzeuger ihrer Kinder, weil diese Männer in ihrem Leben keine nennenswerte Rolle spielten. Diese Mütter hatten außerdem absolut keine Unterstützung mit ihren Kindern.
Manche der Frauen merkten nicht einmal, dass sie ein Kind im Bauch tragen. (Das reale Vorbild des Gretchens aus Goethes Faust hieß Susanna Margaretha Brandt. Sie war betrunken vergewaltigt worden. Über ihre Schwangerschaft sagte sie, es habe sich angefühlt, als rollten Steine in ihrem Bauch hin und her. Man hat sie hingerichtet. Zahllose Zeitgenossinnen teilten dieses Schicksal.)
Im Falle von Neonatizid, also dem Töten eines Neugeborenen, war die entscheidende Handlung praktisch immer ausgelöst vom Schreien des Kindes. Sogar Mütter, die zuvor noch versucht hatten, ihr Baby zu stillen, gerieten in Panik, als das Kind schrie.
Mütter verstehen normalerweise das Schreien ihres Babys als Kommunikation, als Nachricht, dass etwas gebraucht wird. Von Müttern, die selbst dafür bestraft wurden, Gefühle in dieser Form zu äußern, wird langanhaltendes Schreien des Babys als Angriff aufgefasst. Sie stürzen zurück in ihre eigene Dissoziation, sie werden getriggert durch eine Situation, die sie vor langer Zeit selbst als lebensbedrohlich erfahren haben. Mütter und Babys, die in solch extrem fordernden Situationen alleine gelassen werden, sind in Gefahr.
„Mit der ersten schlaflosen Nacht, wenn nicht schon direkt nach der Niederkunft wird der neuen Mutter klar, wie naiv ihre Vorstellungen waren. Zunächst fühlt es sich toll an, das Baby zu halten. Aber wenn man stundenlang untröstliches Schreien ausgehalten hat, sind selbst Mütter mit dem größten Selbstvertrauen im Zweifel, ob es ihnen gelingen wird, das Baby gut zu versorgen. Größer ist der Schock für die, die kaum Zeit damit verbringen konnten, sich vorzubereiten. Die Bedürfnisse eines Babys halten sich weder an Uhrzeiten noch an Terminkalender. Wenn eine Mutter keine Unterstützung bekommt, wird sie von den Bedürfnissen des Kindes überwältigt.“
Michelle Oberman/Cheryl L. Meyer: Mothers who kill, New York University Press, 2008, Übersetzung von mir
Von den Frauen in Ohio, die sich ihres Zustandes bewusst waren, war Abtreibung offenbar keine Option. Eine vorherrschende Aussage war die, dass man „so was nicht tut“. Einige Mütter zogen die Freigabe zur Adoption in Erwägung, kamen aber wieder davon ab, weil sie der Gedanke der Trennung, nach der Geburt, beim Anblick ihres kleinen Babys so traurig machte.
Die Frauen sagen, dass sie niemanden mit ihrem Problem belasten wollten. Dass sie nicht wollten, dass die Eltern es rausbekommen. Dass sie niemanden enttäuschen wollten mit der Tatsache, dass sie Geschlechtsverkehr gehabt hatten. Dass sie die Schwangerschaft nicht gespürt haben. Dass sie dachten, das Kind sei tot. Dass sie das Kind als Element ihrer selbst wahrnahmen, ein Anteil, der nicht sein durfte. So wurde die Handlung gegen das Kind zu einer Handlung gegen einen Teil ihrer selbst.
Eine Niederkunft ohne Hilfe und Unterstützung ist eine lebensgefährliche Angelegenheit für Mutter und Kind. Wie groß müssen die Ängste solcher Frauen sein, dass sie sich lieber diesem Risiko aussetzen, als Hilfe zu suchen?
In England wurde 1922 der Infanticide-Act erlassen. Man ging davon aus, dass Frauen, die gerade niedergekommen waren oder stillten, in irgendeiner Form geistig verwirrt waren. Sie sollten für die Tötung ihres Babys nicht für Mord – und damit zwangsläufig zum Tode oder zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werden. Mildere Strafen sollten möglich sein, weil diese Fälle derart häufig waren. Es war bereits strafbar, wenn eine Frau versuchte, ihre Schwangerschaft zu verbergen. Ich habe eine Literaturangabe über Paris gefunden, über ein bestimmtes Jahr im späten 19. Jahrhundert. Dort ging es um über 180000 ausgesetzte Babys. In England war Babyfarming zur selben Zeit eine anerkannte Profession. Man gab ungewollte Kinder gegen Geld ab und Frauen wie beispielsweise Amelia Dyer versprachen, sich um die Kinder zu kümmern. Niemand fragte mehr nach den Kleinen. Über 400 Kinder soll Amelia getötet haben. 1896 wurde sie gehängt.
Der Leib ist der Wohnort unserer Seele. Ein Leib, der von Beginn an Angst, Schmerz, Vernachlässigung und Pein ausgesetzt ist, spürt sich selbst nicht richtig.
Die Menschlein dissoziieren, weil sie das Sein nicht ertragen.
In den Augen meines neugeborenen Sohnes sah ich alles. Seine Augen spiegelten alles.
Im Verlauf der ersten Wochen schien es mir, als zöge allmählich seine Seele richtig ein. Er war neu in diesem Körperchen, das für neun Monate gar nichts alleine tun musste und das nun in der Welt war.
Er lernte Hunger und Ausscheidung. Er lernte Haut und Stimme. Er lernte Körper und Gliedmaßen. Er wurde er. Immer bewusster nahm er wahr, wählte aus, lernte, versuchte. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Mütter machen, die vielen Menschen fehlt.
Ein Neugeborenes ist absolut hilflos. Es braucht Wärme, Nahrung, Liebe, Berührung, um zu lernen, dass es ist.
Ich habe nach der Niederkunft die Trennung von dem kleinen Leib, der in mir gewachsen war, schmerzlich empfunden. Am besten war es auszuhalten, wenn mein Baby auf meinem Bauch lag. Seine Wärme und seine Bewegungen zu spüren auf meinem Bauch half. Ich glaube, jeder Körper mag dieses Gefühl. Die meisten Menschen freuen sich, wenn ihnen ein Tier so sehr vertraut, dass es sich auf ihren Bauch legt.
Frischgebackene Eltern empfangen rosablaue Kärtchen und einen Brief mit der Steuernummer für den neuen Bundesbürger.
Die Frau sitzt wenig später zuhause, allein, mit einem schreienden Baby.
Sie kann meist nicht lange liegen bleiben. Und weg gehen kann sie schon mal gar nicht.
Tragen soll sie zwar mit ihrem beanspruchten Beckenboden nicht, aber wenn keiner da ist, um das Baby zu tragen, dann macht es Mama. So schwer ist das Kleine ja noch nicht, obwohl, nach einer Weile wird es doch schon ganz schön schwer, aber an den brennenden Rücken gewöhnt man sich. Nebenher Haushalt schmeißen, mit übermüdetem Kopf den Elterngeldantrag ausfüllen und idealerweise sechs Wochen nach der Niederkunft wieder den Körper haben, mit dem das Männchen einst zur Begattung angelockt wurde. Kriegen die anderen ja auch irgendwie hin. Und dann…
…ist Mama auf dem Sofa mit dem Baby an der entzündeten Brust weg gedämmert. Sie wacht auf und Anne Will kommt in der Glotze. Da sitzt ein 27jähriger Hosenscheißer, der sagt so was wie:
100000 abgetriebene Kinder sind 100000 fehlende Fachkräfte, und die brauchen wir!
Mannmannmann.
Die Frauen in der Talkrunde können es nicht fassen. Die müde Mutter auf dem Sofa kann förmlich sehen, was sie denken. Wo soll man anfangen, fragen sie sich. Dieser Mann ist ein großes Kind, denken sie. Sie denken, wo soll ich denn da anfangen. Der checkt ja gar nichts.
Und weniger noch checkt es ein homosexueller Gesundheitsminister mit dem IQ einer Hummel, der, statt sich drum zu kümmern, dass es sich wieder lohnt, Hebamme zu sein, lieber 5 Millionen in dubiose Studien steckt, die keine Frau braucht. Honestly, nichts ist mir wurschter als die sexuelle Orientierung von jemandem, aber seriously, das ist, als würde ich Jogi Löw Fußball erklären.
Schwanger sein ist ein besonderer Zustand, in dem der Körper der Frau, also die Frau, also sie, also ihre Seele, nach Sicherheit strebt.
Schwangere Tiere suchen sichere Plätze. Sie sind extrem scheu und vorsichtig, um ihren Nachwuchs zu schützen. Der Mensch bei allen zivilisierenden Einflüssen ein Säugetier. Es sollte selbstverständlich sein, jeder werdenden Mutter diese Sicherheit zu geben, wenn sie das Kind möchte. Es ist ungeheuerlich, wenn Schwangere keine Hebammen bekommen. Es ist untragbar, dass die Gesellschaft nicht rundum informiert ist über alle Bedürfnisse und Umstände der Kern-Beziehung zwischen Mutter und Kind. Schwangere abzuschieben ist ein Verbrechen.
Und es ist selbstverständlich, dass eine Frau selbst entscheidet, ob sie Mutter werden will.
Ihre ganz eigene individuelle Lebensgeschichte verantwortet, ob sie sich dieser Aufgabe stellen kann und will.
Die Kluft zwischen Eltern und Nicht-Eltern ist eine der tiefsten in unserer Gesellschaft, möglicherweise nur übertroffen von der Kluft zwischen Reich und Arm.
Eigentümlicherweise sind der kinderlose Christian Lindner oder unser kompetenter Gesundheitsminister eher auf der reichen Seite, und auch der Honk, der in seiner Freizeit Frauenärztinnen anzeigt, weil sie auf ihre Webseiten schreiben, dass sie Abtreibungen durchführen.
Erwiesenermaßen auf der anderen Seite sind alleinerziehende Frauen.