Meinen ersten Job hatte ich in einer Klinikküche. Samstag nach der Schule fuhr ich mit dem Bus ins Krankenhaus, stopfte meine pinkfarbenen Haare unter eine Papierhaube und griff nach einem frischen Medizinkittel, die im Regal neben der Stechuhr bereit lagen für Schichtarbeiterinnen wie mich.
Ab 13 Uhr kamen die Essenswägen von den Stationen zurück. Mit Gummihandschuhen packte ich heiße nasse Teller, noch heißere Teekännchen aus Metall und Besteckkörbe vom Band, das aus der Spülanlage lief und sortierte alles in unterschiedliche Wägen. Für die Vorbereitung des Abendessens stand ich ganz vorne am Band. Ein Tablett von unten hoch, Griff rechts nach dem Teller, links nach Gabel und Löffel, dann wieder rechts nach dem Messer und das Tablett lief los. Im Idealfall stand Tablett an Tablett – ohne Zwischenraum. Wurde der Zwischenraum zu groß, schimpften die Frauen, die die höher qualifizierten Jobs am Band hatten. Die Diätassistentinnen waren in der Lage, die verschlüsselten Patientenkarten zu lesen, nach deren Anweisungen das Essen aufgelegt werden musste: Schonkost, ohne Gluten, lactosefrei, Vollkost, Diät, nierenkrank, und so weiter. Hätte eine jemandem Nuss-Nougat-Creme aufs Tablett getan, der gegen Nüsse allergisch ist – zack, wär vielleicht Schicht im Schacht gewesen. Am Ende des Monats hatte ich eigenes Geld auf dem Girokonto. Pro Stunde verdiente ich 8 Mark und 60 Pfennig, weil ich noch nicht volljährig war. Wenige Wochen später wurde ich 18. Wie jeder weiß, arbeitet man mit 18 viel mehr und besser als mit 17, deswegen bekam ich von da an 9 Mark und 20 Pfennig pro Stunde. Meine erste Gehaltserhöhung!
Der Verdienst spiegelt, wie wichtig und verantwortungsvoll eine Arbeit ist.
BMW-Chef Krüger hat letztes Jahr 6 Millionen verdient und ist jetzt abgetreten. Zetsche, einst bei Daimler, ist trotz 4200 Euro Altersgeld pro Tag noch bei TUI und bei Aldi. Joe Kaiser von Siemens stagniert bei 7 Millionen. SAP-Vorstand McDermott ist bei runden 22 Millionen. Bei ihm als US-Amerikaner werden Nebenausgaben mit hinein gerechnet, z. B. wenn er regelmäßig First Class nach Hause fliegt. Er hat weltweit mehrere Wohnsitze, die müssen versichert und bewacht werden, vernünftige Dienstwagen - da kommt was zusammen. Was er an Boni ausbezahlt bekommt, wird sich noch zeigen. Boni werden nämlich immer erst später ausbezahlt. Erst wird geguckt, ob das Management gut gewirtschaftet hat.
Gut gewirtschaftet, das lässt sich erst nach einer Weile bewerten.
Was unter „GUT“ zu verstehen ist, da könnten die Ansichten von Managern und Aktionären der DAX-Unternehmen andere sein als die von etwa 77 Millionen Kindern in Afrika, die von Kinderarbeit betroffen sind. Deutschland hat 80 Millionen Einwohner. Fast jeder müsste ein Kind bei sich aufnehmen, um diese Schuld wieder gut zu machen.
In Accra, der Hauptstadt von Ghana, popeln Kinder wiederverwertbare Metalle aus unserem Elektroschrott. Dazu verbrennen sie es oder hauen mit Steinen drauf, um etwa Kupfer rauszubekommen. Die Schadstoffbelastung im Boden liegt um das 50fache über der als unbedenklich eingestuften Höhe. Vor der Küste Ghanas sind durch die Schwermetalle im Abwasser kaum noch Fische zu finden. Eigentlich darf Elektroschrott nicht mehr exportiert werden. Dazu gibt es eine EU-Resolution. Trick 17: Die Ladung wird als Second Hand Ware deklariert. Am Zoll wird das streng geprüft: Der Zollbeamte steckt den Stecker in die Steckdose. Wenn die Lichtlein blinken, geht das Gerät an, alles roger und ab dafür. So wie ein Markthändler die schönsten Äpfel nach oben räumt, stellt der Exporteur die ausrangierte Wii, auf der man den neuesten Egoshooter wegen Mindestsystemanforderungen nicht spielen kann, vorn hin, wo die Zollbeschäftigten gut ran kommen. Hinten unten steht das olle Discounter Tablet, dem auch mit Starkstrom kein Leben mehr einzuhauchen wäre.
„Urban mining“ heißt das Recycling von Wertstoffen aus Elektroschrott, das ist den Industrieländern aber viel zu teuer. Allein die Sicherheitsvorkehrungen, Absauganlagen, Schutzkleidung bei all den Schwermetallen und dann noch unsere Lohnnebenkosten, wer soll das denn bezahlen? Das bezahlen die Kinder von Accra mit ihrer Gesundheit, ihrem Leben und ihrer Perspektive. Im Kongo gibt’s Coltan, das wird für unsere Smartphones und Laptops gebraucht und von Kindern abgebaut. Es sind auch Kindersoldaten, die den Kindern das Abgebaute gleich abnehmen.
Ein großer Zementhersteller, der wahrscheinlich auch deine Wohnung, deine Schule, deinen Arbeitsplatz oder deine Bibliothek gebaut hat, lässt von Kindern in Uganda Puzzolan abbauen. Das braucht man zur Herstellung von Beton. Arbeiten darf da jeder, der will, Vorstellungsgespräche gibt es nicht. In Sierra Leone suchen Kinder nach Diamanten, in Madagaskar nach Saphiren. In Eigenregie wird gebuddelt, das bedeutet, ohne das von gutbezahlten Arbeitssicherheitsbeauftragten Ingenieuren mit Hochschulabschluss und Schutzhelm irgendwas geprüft oder abgesichert wird. Da wird gebuddelt. Wenn was einstürzt, stürzt es halt ein.
Kinder nähen, knüpfen Teppiche, suchen nach Pigmenten für Kosmetikprodukte, kleben Plastikspielzeug zusammen und brennen Geschirr.
Für unsere Altersvorsorge sollen wir alle in Aktien investieren, denn Aktien steigen im Wert. Langfristig in die Aktien der größten Firmen an der Börse anlegen ist das Geheimnis. Die Politik kümmert sich drum, dass die größten Firmen nicht eingehen, dafür wird sie von Lobbyisten sehr gut bezahlt. Die Politik rettet Banken, Automobilhersteller und den Braunkohleabbau. Sorge dich nicht, investiere in Aktien. Egal, ob Firmen in Bereichen investiert haben, deren Zeit abgelaufen ist. Die Firmen wachsen.
Wachstum! Wachstum braucht Verbraucher. Wachstum braucht Arbeitskräfte. Billige vor allem.
Am besten umsonst! Dann kannst du im Discounter Lesehilfen für 1,75 Euro kaufen, oder schicke Blumentöpfe, handbemalt, für 2,95 Euro. Um dir ein schönes Heim zu schaffen.
Wichtig für Wachstum sind Menschen.
Menschen werden geboren, wir wissen alle, von wem, lasst es uns gemeinsam sagen: Frauen!
Frauen gebären und versorgen kleine Menschen kostenlos, sie werden dafür nicht bezahlt. Deswegen sind sie so wichtig im Kapitalismus, sie sind die kostenlose Quelle für Arbeitskräfte. Babys, Babys müssen her, je mehr, desto besser.
Das Kind ist wichtig, vor allem wenn es noch im Bauch ist. Wenn es draußen ist, wird die Verantwortung dann der Frau übergeben. Die soll gucken, wie sie es macht. Die ist auch schuld, wenn was schiefgeht, ganz egal, ob sie das Kind wollte oder nicht. Sie produziert immerhin gerade eine Arbeitskraft und einen Konsumenten!
Ob es dem Kind gut geht, es glücklich werden kann oder so, das ist wurscht.
Es muss vor allem! Bruttosozialproduzent werden! Wenn es unglücklich ist, kann es sich ja Drogen kaufen. Kaufen muss es halt. Kaufen kaufen und arbeiten arbeiten und sich einbilden, dass es schon alles irgendwie irgendwo irgendwann besser wird, wenn es nur genug kauft und arbeitet.
Kennst du die Geschichte von den Bowie Bonds? David Bowie hat mal dringend Geld gebraucht. Er hatte sich überlegt, ein Wertpapier anzubieten, dass dem Käufer Anspruch auf künftige Einnahmen mit Bowie-Musik bekommt. Das war in den Neunzigern, wo man noch nicht wusste, dass CDs oder Kassetten als Musikträger binnen kurzer Zeit nicht mehr den Löwenanteil an Musikgewinnen ausmachen werden. Es fanden sich Käufer für diese Papiere, die aber bald wertlos waren, weil die Einnahmen auf Bowie-Musik zurückgingen. Es gab plötzlich das Internet. Keiner mehr kaufte CDs, weil Musik jetzt gestreamt wurde. Die Bowie-Bonds waren ein Modell für die komplexen Wertpapiere, die die Krise 2008 verursacht haben.
Ökonomische Werte sind keine feststehenden Werte mehr. Die Geldwirtschaft ist ein Glücksspiel geworden, wo Wetten auf Wetten laufen und Leute, deren Vermögen einen bestimmten Wert überschritten hat, immer reicher werden, ohne, dass sie etwas dagegen tun können oder tun wollen oder tun werden.
Wenn ich dir Geld leihe und dafür Zinsen bekomme, weil ich das Geld nicht habe, solange du mein Geld hast, dann bekomme ich Geld für etwas, was eigentlich keinen Wert hat, nämlich dafür, dass ich kein Geld habe. (Schwieriger Satz, kannst du auf dem Klo mal drüber nachdenken.) Deswegen haben die reichsten Leute die allermeisten Schulden, weil sie dann unheimlich viel Geld bekommen für Geld, dass sie grad nicht haben, weil es jemand anderes hat.
Die Leute, denen dieses Geld zustehen würde, sind zum Beispiel die Kinder von Accra. Sind asiatische Zwangsarbeiter und südamerikanische Lohnsklaven. Menschen, die unter haarsträubenden Bedingungen Dinge zusammennähen, -kleben und -basteln, damit wir bei Lidl Lesehilfen mit Lichtchen im Bügel für 1,95 Euro kaufen können.
Das ist die Struktur des Kapitalismus, der darauf baut, dass es immer Menschen geben muss, deren Arbeit nicht adäquat oder gar nicht bezahlt wird. Und die dann sterben, damit andere sich noch ein größeres Haus kaufen können oder eine Jacht oder wasauchimmer. Es ist systemimmanent.
Wenn du also Aktien kaufst, machst du mit in dem System.
Das weißt du, und wahrscheinlich machst du es trotzdem. Du willst ja auch leben und wir haben nun mal dieses System, was will man machen.
Du fürchtest Altersarmut und Wohnungslosigkeit genauso wie ich. Und abschätzende Blicke, wenn du immer die gleichen Klamotten anziehst, weil du die Textilindustrie daneben findest, aber diese Blicke ziehen nicht spurlos an dir vorüber. Dein Kind soll auch nicht leiden unter deinen Entscheidungen, also her mit den teuren Sneakern aus den Kellern von Sri Lanka. Nicht, dass es gedisst wird.
Wir machen uns ja sowieso schuldig! Es ist unser Plastik, das im Ozean schwimmt, unser Dreck, der das Klima versaut und die Meere ansteigen lässt. Da kommt es auf das ein oder andere Kind in Accra nicht an, wenn uns sogar die ertrinkenden Kinder im Mittelmeer, in dem wir im Urlaub herumschwimmen, scheißegal sind.
An welcher Ecke kann man aussteigen? Wenigstens ein bisschen? Wenigstens ein bisschen mehr? Das ist eine Überlegung für jeden Tag. Für jede Stunde. Was kann ich aushalten? Wo muss ich für meine Überzeugung geradestehen? Wo bezahle ich dafür, dass ich mich dagegenstemme?
Und wann bin ich so erschöpft, dass ich mich wieder mitziehen lasse, mitspiele, weil es so anstrengend ist, permanent verbessern zu wollen, zu predigen, ohne zu predigen, denn die Menschen mögen keine Prediger und mach du es doch erst mal besser, du fährst doch dein Kind auch jeden Tag mit dem Auto zum Kindergarten!
Die Sehnsucht nach Geld ist eine Sehnsucht nach dem Ende der Sorge.
Wenn ich genug Geld hätte, könnte ich ein Häuschen kaufen und müsste weniger Angst vor der Altersarmut haben. Wenn ich genug Geld hätte, könnte ich mein Kind auf die gute Privatschule schicken. Wenn ich genug Geld hätte, müsste ich nie mehr ins Büro zu meinem fiesen Chef.
Das ist etwas, was der Kapitalismus von Müttern lernen könnte:
Es gibt kein Ende der Sorge.
Das Kind, das heute satt ist, hat morgen wieder Hunger. Es ist jetzt gewickelt, nachher ist die Windel wieder voll. Heute war es im Kindergarten happy, morgen ist der blöde Junge wieder da.
Es gibt kein Ende der Sorge. Heute passt dir die Hose, morgen ist sie zu eng. Heute bist du zufrieden, morgen geht dir deine Familie auf die Nerven. Nichts ist von Dauer.
Du hast vor 15 Jahren im Ein-Euro-Laden 1000 Briefumschläge gekauft, obwohl du sie nicht brauchtest. Nie wieder keine Briefumschläge, hast du gedacht. Und jetzt hast du sie schon drei mal mit umgezogen, weil du gar keine Briefe schreibst.
Ein ganz unmittelbarer Wert ist folgender:
Wenn du alleine und krank bist, kommt jemand und kümmert sich um dich.
Wenn du Angst hast, nimmt dich jemand in die Arme und sagt dir, dass er dich beschützen wird. Wenn du traurig bist, kommt jemand und tröstet dich.
Wenn du weinst, wischt dir jemand die Tränen ab.
Leider findet sich kaum noch jemand, der sich leisten kann, das zu machen, weil es so schlecht bezahlt ist.
Es gibt kein Ende der Sorge.
Vielleicht ist das alles, was wir lernen müssten.
Außer, wir machen so weiter wie bisher.
Dann hat alle Sorge wahrscheinlich bald ein Ende.