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Über Gefühle

Ich liebe meine Arbeit. Ich darf mich um die Philosophie-Abteilung einer Buchhandlung kümmern. Es ist ein Traum, am liebsten würde ich manchmal in meine Regale hineindiffundieren, so spannend finde ich „meine“ Bücher. Bei den Einführungen steht ein Band mit dem Titel „Philosophische Gedankenexperimente“, den liebe ich sehr. Jahrelang habe ich Improvisationstheater gemacht, das ist ein bisschen ähnlich: man begibt sich in Situationen, in denen völlig unvorhersehbar ist, wie es im nächsten Moment weitergeht – in einem geschützten Rahmen. Man kann ausprobieren, wie man sich fühlen würde in bestimmten Situationen.

Ein bekanntes Gedankenexperiment heißt etwa „Der Geiger“:

Stell dir vor, du wachst in einem Krankenhaus auf. Du hängst an Schläuchen und Kabeln, die gehen zu einem Bett, das neben deinem steht. Schmerzen hast du keine. Ein Arzt sagt dir, dass es ein Versehen gegeben hat. Der Verein der Musikliebhaber hat dich gekidnappt. Der Verein wollte diesen Geiger hier neben dir retten, und der ist auf die Funktionen ganz speziell deines Organismus angewiesen, weil ihr beide diese extrem seltene Blutgruppe habt. Deine Nieren filtern sein Blut. Der Geiger sei aber in ein paar Monaten gesund. Man verstehe, dass es nicht okay war, dich aus deinem Leben rauszureißen und aus deinen Plänen. Also, es läge ganz bei dir.

Entwickelt hat dieses Gedankenspiel die amerikanische Philosophin Judith Jarvis Thomson. Es soll unter anderem verdeutlichen, wie sich eine ungewollte Schwangerschaft anfühlen könnte. Außerdem belegt es, dass das Recht eines Menschen auf Leben nicht an die Pflicht eines anderen Menschen gekoppelt werden kann. Obwohl es sich hart anhört, wäre es völlig in Ordnung von dir, zu sagen, ich will hier nicht bei diesem Geiger liegen bleiben. Ganz egal, ob du nur keine Lust hast oder in zwei Stunden zu einer wichtigen Prüfung musst, die über dein restliches Berufsleben entscheidet oder du eine Verabredung mit der Liebe deines Lebens hast oder, oder, oder.

Im Improvisationstheater macht man Gedankenspiele unheimlich oft. Es wird mit bestimmten Settings gearbeitet. Wenn du etwa mit einigen Leuten spielst, die so tun, als ob du stinkst: Da wird Ablehnung richtig körperlich wahrnehmbar. Oder andersherum: Du stehst auf einem Tisch und unten stehen ein paar Leute und jubeln dir zu! Das fühlt sich vollkommen irre an. Freude erfasst dich, du musst lachen, Blut schießt in dein Herz und in deinen Kopf und du möchtest alle umarmen. Dabei weißt du doch genau: Es ist ja nur ein Spiel!

Joe Kaeser war neulich wieder in den Medien. Er verdient 14 Millionen im Jahr. Wie mag sich das wohl anfühlen?

 Ich frage mich, wie Joe Kaeser folgende Situation meistern würden:

12 Kleinkinder müssen von ihrer Bushaltestelle zu ihrer ungefähr einen halben Kilometer entfernten Kita gebracht werden. Es ist morgens um halb acht und es liegt ganz frischer Schnee. Alle 12 Kleinkinder haben je zwei Handschuhe, eine Mütze, ein Rucksäckchen mit Vesper, und einen Schal. Verloren gehen soll unterwegs nichts, kein Kleidungsstück und idealerweise auch keines der Kinder. Die Kinder kennen einander, manche mögen sich, manche nicht. Ein Rabauke ist dabei, der es lustig findet, die anderen in den Schnee zu schmeißen. Die Kleineren finden es auch lustig, aber nur manchmal, manchmal auch nicht. Ein zweiter Rabauke will gerne noch etwas rabaukiger sein als der andere. Er denkt sich für unterwegs noch ein paar Dummheiten aus: Die Taschen der anderen in den Schnee schmeißen, die Mützen oder die Handschuhe. Dazu werden Schneebälle geworfen. Jedes Mal, wenn ein Kind oder ein Kleidungsstück oder ein Rucksack im Schnee landet, muss der Begleiter in den tiefen Schnee hinein. Der Weg führt nicht an einer Straße entlang, auf den Straßenverkehr muss also nicht geachtet werden. Dafür gibt es einen Tümpel und einen Bach. Du hast eine Stunde Zeit.

Die Stunde wird vergütet. Aber um Kleinkinder von A nach B zu bringen, brauchst du ja keine Qualifikation. Also gibt es für diese Stunde, in der du für das Leben von 12 Kleinkindern verantwortlich bist, 10 Euro.   

 

Wie sich das wohl anfühlt?