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Zurück zu einem verlorenen Paradies

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Das ist der erste Satz von Tolstois Roman „Anna Karenina“. Ich finde diesen Satz total wohlgesetzt, aber ich glaube ihn nicht. Unglückliche Familien haben einen gemeinsamen Kern. Menschen sind unglücklich, wenn sie irgendwo dauerhaft sein müssen, wo sie nicht sein wollen. Viele Kinder sind unglücklich in der Schule, Erwachsene bei der Arbeit. Dann sehnen wir uns nach einem sicheren Ort, an dem uns niemand maßregelt, uns Verantwortung aufbürdet oder Sanktionen drohen, wenn wir nicht einer Norm entsprechen. Einem Ort, an dem wir uns nicht anpassen müssen, sondern wo wir dazugehören, genauso wie wir sind. Einem Ort, an dem wir einfach sein können.

Habe ich schon mal über meine Liebe zu Reclam Heften gesprochen? Einmal suchte ich mir eines aus, das besonders unzugänglich war: „Das verlorene Paradies“ von John Milton. Dem deutschen Titel fehlt das Verzweifelte des Ausrufs „Paradise Lost!“, wie es im Original heißt. Um Verzweiflung geht es, und zwar die des Teufels, der aus dem Paradies vertrieben wurde von keinem geringeren als – Gott. Zu Beginn erwacht Satan aus einer Betäubung und möchte zurück ins Paradies. Aber Gott lässt ihn nicht. Milton wählt die Erzählperspektive des Teufels, und dann passiert etwas Eigenartiges: Man kann nicht umhin, Mitleid zu haben mit dem Teufel! Satan ist so traurig und wütend, dass die bekloppten Menschen machen können, was sie wollen und ihnen vergeben wird und sie ins Paradies dürfen, und er, Satan, nie mehr wieder. Voll ungerecht. Also, so ganz verstanden habe ich „Das verlorene Paradies“ nicht, aber die Sache mit dem Effekt der Perspektive geht mir nicht aus dem Kopf.

Zeitungen füttern uns mit Perspektiven, das Fernsehen, Werbung, Kino, Literatur. Es sind die Perspektiven derer, die dort tätig sind. Männer überwiegend, klar. Auch viele Frauen mittlerweile, zum Glück, Berufstätige, Studierte, Ausgebildete, Menschen mit der Fähigkeit und den Möglichkeiten, sich mitzuteilen.

Was fehlt, sind die Perspektiven von Müttern. Und genau jetzt willst du aufhören zu lesen, nicht wahr? Spontaner totaler Konzentrationsabsturz. Nicht schon wieder das Gejammer und Gesäusel von Müttern um Windeln und Koliken und Nächte ohne Schlaf, gähn, please! Hallo ?

Falls du noch dabei bist, freue ich mich und verspreche, dass es nicht um Windeln, Muttermilch und schlaflose Nächte gehen wird. Woher kommt die Ablehnung der Perspektive von Müttern?

Manche haben ein tolles und gechilltes Verhältnis zu ihren Müttern. Wenn die Mutter geliebt wird, und das wird sie bei weitem nicht immer, will man bei ihr meistens gut dastehen, sie hat einen geboren und das Leben geschenkt und Dankbarkeit und all sowas – lauert eine instinktive Ablehnung dessen, was eine Mutter zu sagen hätte. Man denkt an Standpauken und Freiheitskämpfe und hat das Ganze negativ verstoffwechselt. Vielleicht ist man richtig sauer auf sie! Denkt, dass sie alles oder eine Menge falsch gemacht hat. Hat ihr nicht verziehen, hat noch Rechnungen mit ihr offen. Auch dann wird man nur ungern an sie erinnert. In irgendeinem Extrabreit Song schreit der Sänger: „Mutter, ich habe nie danach geschrien geboren zu werden. Mein Gott, was hast du getan?“

Aber es geht gar nicht um deine Mutter, oder meine.

Es geht um die MUTTER und die Lebenswelt, die die Gesellschaft ihr angedeihen lässt, es geht um das, was mit ihrem Körper geschieht und was alle Welt für selbstverständlich hält, und es geht um das, was von ihrer Person übrigbleiben darf, wenn sie ein Kind geboren hat.

Das Fehlen dieser Perspektive schadet uns zutiefst. Wir sind geboren von einer Mutter, verbringen unsere ersten Lebensmomente in ihrem Bauch, in ihrer Obhut, unter ihrem Willen, wir alle werden davon für den Rest unseres Lebens geprägt, kämpfen vielleicht bis zu unserem Tod mit Dingen, die uns unsere Mütter mitgegeben haben. Kinder lieben ihre Mütter immer, sie können biologisch gar nicht anders. Mütter müssen das nicht. Eine Mutter, die gezwungen wird, ein Kind zu bekommen, liebt es möglicherweise nicht.

Neulich kam eine junge Frau in den Laden und wollte „…irgendein Buch über Schwangerschaft“. Augenblicklich füllt sich der Kopf mit Assoziationen: nuckelnde Embryos in pfirsichfarbenem Schwebezustand und Babysocken aus Biobaumwolle.

Ein einziges Buch ist mir begegnet, dass nicht den Fokus auf dem Baby hat, das heranwächst, sondern auf der Frau und dem, was in ihr vorgeht, solange sie ‚guter Hoffnung‘ ist.

„Psychologie der Schwangerschaft“ ist von Luis Alvarez und Veronique Cayol. Alvarez ist Kinder- und Jugendpsychiater und Cayol Gynäkologin. Gedruckt ist es leider schon nicht mehr lieferbar, nur noch als E-Book. In Schwangerschaftsbüchern geht es fast immer um die Entwicklung des Kindes, und wie Frau sich am besten verhält, um diese Entwicklung nicht zu gefährden. Forschungsarbeiten befassen sich mit dem „Frauenleib als öffentlichem Ort“, eine Schwangere heute ist das „uterine Umfeld zur Versorgung eines Normfötus“, wie es Barbara Duden formuliert.

Wie mag es sich anfühlen, wenn man als Mensch mit eigenem Willen plötzlich zum reinen Gefäß wird? Ich habe neulich einen Text gebloggt mit einem philosophischen Experiment: Du liegst plötzlich zum Erhalt des Lebens eines anderen Menschen, den du nicht kennst, in einem Klinikbett für neun Monate. Der Vergleich hinkt, ist aber ein Anfang.

Hier ist noch einer: In „Total Recall“, einem alten SciFi Film mit Arnold Schwarzenegger taucht eine Figur auf namens Kuato. Er wohnt in der Brust des Mutanten George, der, damit sich Arnold mit Kuato unterhalten kann, sein Hemd aufknöpft, ein bisschen keucht und dann den etwas schleimigen Kuato offenbart. Kuato lebt in George, wie eine Art siamesischer Zwilling. Auch der Vergleich hinkt. Ein Baby im Bauch ist kein siamesischer Zwilling. Aber es ist ein im Leib der Frau wachsendes Wesen, gemacht aus ihren Zellen, Fleisch von ihrem Fleisch, dass sie nicht kennt.

Rachel Cusk hat in ihrem Buch „Lebenswerk“ das Muttersein beschrieben, und ist dafür laut Guardian zur ‚meistgehassten Schriftstellerin Großbritanniens‘ geworden. Sie schreibt über ihren nach einem Kaiserschnitt „ausgeräumten, vernähten Körper“, über den Spagat, Vergangenheit und Gegenwart „zusammenzulöten, gleichzeitig ich und Mutter zu sein“, über den Bruch zwischen Mutter und Frau, über die Aufspaltung. Die ganze Gesellschaft, die ganze Welt baut darauf, dass die „Interpretationen (der Mutter) die Grundlage bilden werden, auf der das Kind Minute für Minute die Struktur seiner Persönlichkeit errichtet“. Gleichzeitig bieten wir Müttern keine Möglichkeiten, ihre Kraft und Energie bei dieser Herkulesaufgabe des menschlichen Daseins zu erhalten.

Das Gefüge Mutter-Kind besteht aus einer erwachsenen Person, die für das Wohlbefinden von Leib und Seele eines kleinen empfindlichen Menschen zuständig ist, der im Verlauf mehrerer Jahre sitzen, gehen, stehen, sprechen lernen wird, sich permanent in Gefahr bringt und konstant seinen Willen und Charakter bilden will und muss. Aber niemand ist in der Lage, über Jahre hinweg, tagein, tagaus, den 24/7/365-Job des Mutterseins ohne Erschöpfungszustände tektonischen Ausmaßes zu meistern. Das einzig allgegenwärtige Objekt der Abarbeitung möglicher Frustrationen ist: Das Kind. Finde den Fehler.

Beyoncé hat für ihre Zwillinge sechs Nannys eingestellt, alle mit Hochschulabschluss und zweisprachig at least. Das macht für zwei Kinder je drei Acht-Stunden-Schichten möglich – wie das mit den Urlaubsvertretungen aussieht, habe ich nicht recherchiert. Und die Nannys werden wirklich. Gut. Bezahlt. Sie werden auch nicht mit der Aufgabe ihrer persönlichen Lebensträume und der Aussicht auf massive Altersarmut konfrontiert, während die Gesellschaft ihnen nebenher ununterbrochen klar macht, dass schon ein Blick aufs Handy während des Stillens möglicherweise unumkehrbare Schäden in der Psyche des Kindes ausrichten kann. Ich weiß nicht, ob Beyoncé vielleicht trotz aller Nannys ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie sich von ihren Kids verabschiedet, um das nächste Album aufzunehmen – falls ja, nimmt sie sie wahrscheinlich einfach mit.

In allen unglücklichen Familien ist mindestens ein Familienmitglied dabei, das gezwungen ist, dort zu sein, wo es nicht sein will. Diese Unzufriedenheit gibt es an den Rest der Familie in verschiedenen Formen weiter. Gerne an Feiertagen, danach liest man über sogenannte Familientragödien. Anscheinend teilen die Berichterstatter die Perspektive der Täter und haben Mitleid. Sonst würden sie es Mord nennen.

Peter Handke bearbeitet in „Wunschloses Unglück“ das Leben und den Selbstmord seiner Mutter. Sie war fröhlich, wollte gerne eine Ausbildung machen, der Vater lehnte ab. Sie verließ das Zuhause, ging arbeiten, wurde von einem verheirateten Mann schwanger und heiratete, um ihrem Sohn Peter einen Vater zu geben. Zu damaligen Zeiten galt sie als ein gefallenes Mädchen, eine junge Frau mit Makel. Aus ihrem Leben kommt sie nicht raus und tötet sich. In Michael Cunninghams „The Hours“ versucht die Protagonistin Laura Brown ebenfalls, auf diese Art aus dem Leben in der Kleinfamilie zu entfliehen. Sie gibt ihren kleinen Sohn Richie bei der Nachbarin ab und fährt in ein Hotel. Aber weil sie schwanger ist, bringt sie einen Selbstmord nicht über sich. Im oben genannten Titel von Alvarez und Cayol wird die „emotionale Durchlässigkeit“ von Schwangeren benannt und diskutiert. Auch die Folgen traumabehafteter Kindheiten bei werdenden Müttern sowie den Konsequenzen für ihr Körpergefühl kommen zur Sprache. Klaus Theweleit erforscht in seinen „Männerphantasien“ die Konsequenzen fragmentierter Körper für die Psyche auf über tausend Seiten. Die Folgen begegnen uns nach jedem Amoklauf.

Wie können wir meinen, wenn selbst junge Menschen mit den normalen, gewöhnlichen Übergängen zum erwachsenen Leib zu kämpfen haben, es ginge an einem Menschen spurlos vorbei, ein Leben in sich heranwachsen zu erleben und es zu gebären? Weshalb interessieren diese Vorgänge so wenig? Wie kommt es, dass uns kaum irgendwo Perspektiven der Mütter begegnen, obwohl sie für uns so elementar sind?

Ich habe eine Menge Männer gefragt, was sie glauben, woher Misogynie komme. In den allermeisten Fällen wurde die eigene Mutter zumindest miterwähnt. Warum schauen wir nicht darauf, wie es den Müttern geht und welche Möglichkeiten sie haben, ihre Aufgabe gut und richtig zu machen? Ein altes amerikanisches Sprichwort sagt: Wenn du deine Kinder liebst, dann liebe ihre Mutter. Im Gegensatz zu dem Spruch von Tolstoi würde ich hier mal beipflichten. Bei Beziehungen, die den absurden Anforderungen an die Kleinfamilie nicht standhalten konnten, stellt sich die Frage, weshalb Väter, anstatt die Frau, die meist den Nachwuchs versorgt, zum Segen der Kinder so gut als möglich zu unterstützen, eher versuchen, ihr das Leben schwer zu machen.

Wenn du heute erwachsen bist und deiner Mutter nicht verzeihen kannst: Nimm ein Foto von ihr, auf dem sie jung ist. Schau ihr Gesicht an. Frag dich, was ihre Träume waren. Nimm ihre Perspektive ein. Was hätte es gebraucht, damit es ihr gut geht? Wenn es den Müttern gut geht – dann haben wir eine Chance, dass es allen gut geht.  Erst dann.