Stell dir vor, es gäbe ein furchtbares Virus, das die Gesundheit vieler Menschen in große Gefahr bringt. Ein total uninnovativer Anfang. Seufz!
Aber ich spreche nicht von Corona.
Es ist gefährlich. Es ist überall. Es bedroht uns und unsere Kinder. Seit mehr als einem Jahrzehnt. Aber von vorne.
Japan hatte gut zehn Jahre vor uns Breitband-Internet. Seither bemerkt man bei der jungen Generation Veränderungen. Zum Beispiel:
2005 waren ein Drittel aller Japaner*innen unberührt. 2015 waren es 43 %, und sie haben nicht vor, zu heiraten.
Japanische Männer haben kein Interesse mehr daran, mit Frauen zu schlafen. Sie gehen stattdessen spazieren. Und sie verbringen viel Zeit alleine. Im Internet.
2007 erreichten Smartphones, damals vor allem I-phones, nennenswerte Marktanteile. Inzwischen haben die allermeisten Leute ein Smartphone, mit dem sie jederzeit und überall ins Internet können.
Ebenfalls 2007 ging Pornhub ans Netz. Profis und Amateure laden dort Pornos hoch und jeder kann sich die Filme anschauen.
Im gleichen Jahr wollten Forscher eine Studie zur sexuellen Erregbarkeit von Männern machen. Sie setzten die Männer vor – Pornofilme. Aber die Hälfte der Männer wurde gar nicht erregt. Sie waren offenkundig mehr Internet-affin als die Wissenschaftler und erklärten nach Befragung, dass sie häufig Pornoseiten aufsuchten und ihnen der gezeigte 'Blümchensex' nicht ausreiche.
Kennst du den Coolidge Effekt? Dazu gehört ein Anekdötchen:
Präsident Coolidge besuchte einst mit seiner Gattin eine Hühnerfarm. Als Lady Coolidge sah, wie der Gockel die Hennen bestieg, fragte sie, wie oft der Gockel das mache.
Dutzende Male täglich! War die Antwort.
Teilen Sie das bitte dem Präsidenten mit! Soll Lady Coolidge gesagt haben. Die Bitte wurde erfüllt. Präsident Coolidge fragte daraufhin, ob denn der Gockel jedes Mal das gleiche Huhn beglücke. Nein, Mr. President, jedes Mal eine andere!
Teilen Sie das bitte meiner Frau mit! Soll Präsident Coolidge gebeten haben.
Wenn man ein Rattenmännchen mit einigen weiblichen Ratten gemeinsam das Leben verbringen lässt, hat das Männchen irgendwann keine Lust mehr auf die altbekannten Genossinnen. Erst der Zugang eines neuen Weibchens weckt wieder seine Gelüste. Das ist der Coolidge Effekt.
Die Evolution hat dafür gesorgt, dass Säugetier-Männchen sexuelle Stimulation suchen. Wenn sich am Horizont etwas Vielversprechendes tut, regt sich im Gehirn das Belohnungszentrum. Dopamin wird ausgeschüttet – und sorgt dafür, dass mehr von dieser vielversprechenden Sache verlangt wird. Wichtig: Es belohnt nicht unmittelbar den schönen Anblick, sondern es verursacht, dass man mehr möchte.
Es reicht nicht, sich das Törtchen nur anzuschauen. Man möchte es gerne essen.
Was hat Internet Pornographie damit zu tun?
Internetpornographie ist nicht zu vergleichen mit einer nackten Frau, die in einer Wochenzeitschrift abgebildet ist. Jeder neue Clip gaukelt dem Hirn eine neue Partnerin vor, jede Minute, jede Sekunde, immer und überall. Es ist ein sogenannter Superstimulus: Ein Stimulus, der stärker ist als der natürliche, den die Evolution sich ausgedacht hat. In der Vogelwelt machen sich Brutparasiten diesen Effekt zu Nutze und auch Fast-Food-Ketten haben diesen Trick für sich entdeckt, wenn wir den Burger weiter essen, obwohl wir schon längst satt sind und wissen, dass da nur Mist drin ist.
Die Evolution konnte nicht wissen, dass künftig überall und jederzeit sexuelle Stimulation in allen Formen und Farben zugänglich sein wird. Deshalb kriegt unser Gehirn das nicht schadlos geregelt. Nicht jeder ist genetisch prädisponiert, suchtkrank zu werden.
Aber alle alle alle Gehirne sind darauf ausgerichtet, auf sexuelle Stimulation zu reagieren. Pornosucht ist also eine Gefahr für alle.
Wer häufig stundenlang am Computer sitzt und einen Porno nach dem anderen schaut, setzt sein Gehirn für lange Zeit extrem großen Mengen von Dopamin aus.
Was geschieht mit so einem Gehirn?
Es verlangt nicht mehr nach Sex. Es verlangt nach Pornographie. Pornofilme machen mit dem Gehirn dasselbe wie Drogen. Heroinsüchtige wollen keinen Sex. Sie wollen Heroin.
Na gut. Ist man halt bisschen pornosüchtig. So what?
Wie bei jeder Droge braucht man immer mehr für den Kick. Das liegt daran, weil ein Suchtgehirn anders verdrahtet ist. Nicht nur das Dopamin sorgt dafür, sondern auch ein Protein namens DeltaFosB. Wenn man etwas Neues lernt, hilft DeltaFosB, neue Verbindungen aufzubauen. Suchtstoffe aktivieren jedes Mal das gleiche Neuronennetzwerk.
DeltaFosB legt die neuen Leitungen sozusagen unter den Putz, macht die Wand wieder zu und streicht sauber drüber. Alle Anschlüsse gelegt.
DeltaFosB ist ein Biomarker für Suchterkrankungen. Man hat in den Gehirnen von Suchtkranken, die an Überdosierung gestorben sind, noch neun Tage nach dem Tod DeltaFosB nachweisen können.
Wie bekommt man denn nun bei Online-Pornographie mehr, wenn es sowieso immer und überall zu bekommen ist?
Erinnern wir uns: Für die sexuelle Erregung will das männliche Säugetier immer mal wieder etwas Neues. Für das gleiche Level an Erregung wird ein stärkerer Stimulus benötigt. Deshalb werden die Darstellungen immer extremer, immer gewalttätiger und immer frauenfeindlicher. Denn wie Youtube oder Facebook schlagen auch Pornoseiten mit ausgeklügelten Algorithmen neue Themen und Artikel vor. Und am besten triggert man den Coolidge Effekt mit Schock.
Schocks bekommen wir durch Tabubrüche. Daher bricht Internet Pornographie Tabus haufenweise, ohne hier ins Detail gehen zu wollen und zu können. Dazu hätte ich auf diese Seiten gemusst – ein Opfer, das ich nicht bringe. Mir genügt die Beschreibung des folgenden Konzepts: Eine Frau ist mit mehreren Männern alleine im Raum und der Regisseur sagt ihr, sie bekomme für jedes Kleidungsstück, das sie noch trägt, wenn sie den Raum verlässt, Geld. Den Männern sagt er, sie bekämen Geld für jeden sexuellen Akt, den sie mit der Frau haben. Die Frau wird natürlich brutal vergewaltigt, ihre Schreie sind echt. Ich möchte hier nicht die gefragtesten Themen auflisten, nur eines: Bewusstlose Menschen können naturgemäß nicht einwilligen. Opfer von Gewaltverbrechen haben jahrelang geklagt, um die Pornoseiten dazu zu bringen, die Filme von der Gewalttat, die ihnen angetan wurde, zu löschen. Aber die Filme sind so oft kopiert und verbreitet, dass es aussichtslos ist.
Der Pornosüchtige wird süchtig nach Tabu brechenden, brutalen Darstellungen. Wenn er mit seiner Frau schlafen möchte, muss er sich diese Bilder vorstellen. Mehr noch: Männer verlangen von Frauen, diese Bilder nach zu spielen.
Wie bei jeder Suchterkrankung leugnen auch bei Pornosucht Betroffene ihre Krankheit. Sie behaupten nicht nur, alles im Griff zu haben, sie denken es wirklich.
Wenn jemand aus irgendeinem Grund – wie etwa bei einem Schlaganfall – bestimmte Gehirnfunktionen verliert, kann er, wenn er schnell und gut behandelt wird, die meisten Dinge wieder trainieren. Wenn ich immer nur spanisch spreche, vergesse ich mein Englisch. Wenn ich spanisch spreche, trainiere ich den Teil meines Gehirns, der spanisch kann. Der baut neue Strukturen auf und alte, nicht mehr benötigte Strukturen ab.
Die bitteren Konsequenzen beim Aufbau der Struktur eines Pornohirns: Der präfrontale Kortex schrumpft.
Du hast richtig gelesen.
Das Gehirn schrumpft.
Der präfrontale Kortex ist evolutionär betrachtet der jüngste Bereich des Gehirns. Er ist der Sitz unserer Persönlichkeit. Mit ihm kontrollieren wir unser Verhalten, planen unsere Vorhaben, kalkulieren wir Risiken und entscheiden, ob es sich lohnt, sie einzugehen. Abstraktes und rationales Denken geschehen dort.
Robert Sapolsky, Neurologe in Stanford, schreibt über den präfrontalen Kortex: „Wir verwenden den frontalen Kortex für die schwierigen Alternativen in sozialen Kontexten. Wir loben die Gastgeber für das ungenießbare Essen, beherrschen uns, statt den unerträglichen Arbeitskollegen zu verprügeln, machen jemanden keine sexuellen Avancen trotz unserer Fantasien, rülpsen nicht lauthals während der Lobrede.“
Studien der Universitäten in Pennsylvania und New Mexico berichten, dass bei kriminellen Psychopathen die Aktivität im frontalen Kortex eingeschränkt ist und sie eine im Vergleich verminderte Konnektivität mit anderen Hirnregionen aufweisen.
Hypofrontalität nennt sich das Phänomen und wird auch mit anderen psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Studien assoziieren mit Pornosucht folgende Schwierigkeiten: Probleme mit der Lernfähigkeit und dem Arbeitsgedächtnis, Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, hohe Impulsivität, verringerte emotionale Ausgeglichenheit, asoziales Verhalten, hohe Tendenz zu Neurosen, Narzissmus, Depressionen, Angsterkrankungen, Aggressivität und geringes Selbstbewusstsein.
Das Hirn lernt in jedem Alter, aber vieles und am besten in der Kindheit und Jugend.
Etliche Jugendliche und Kinder haben Zugang zu Smartphones. Ich finde, es gibt tolle Apps und Spiele. Aber Internetpornographie hat keine Paywall. Kein Schutz. Nichts.
Krasse böse Bilder klatschen in die jungen Köpfe und brennen sich ein.
Noch bevor sie die Möglichkeit bekommen, eine liebevolle und zärtliche Sexualität zu entwickeln, werden sie mit Darstellungen konfrontiert, die sie schockieren, verwirren, erregen, und die mit der Realität nicht das Geringste zu tun haben.
Selbst wenn sie durch offene Gespräche begreifen, dass die ProtagonistInnen schauspielern (und das ist im oben beschriebenen Szenario bereits zweifelhaft), schaden ihnen die Bilder und Szenen, weil sie etwas mit ihnen, mit ihren Gefühlen, mit ihrem Gehirn und mit ihrer erwachenden Sexualität machen. Sie machen sie kaputt, bevor sie entwickelt ist.
Das British Journal of School Nursing schrieb, dass 22% von Online-Pornos von Kindern unter 10 Jahren konsumiert werden.
Ich habe den Fokus dieses Textes absichtlich auf die seelisch-körperlichen Schäden ausgerichtet, die Pornokonsum verursacht. Von den Beschädigungen, Verletzungen und negativen Folgen für diejenigen, die in dieser Branche verheizt werden, will ich gar nicht erst anfangen.
Das ist das Virus, das längst unter uns ist. Es hat seine Arbeit schon lange aufgenommen.