· 

Armut und Gewalt

Beim Einatmen schlägt dein Herz ein bisschen schneller als beim Ausatmen. Je größer der Unterschied zwischen Inhalations- und Exhalationsherzrate, desto höher ist dein vagaler Tonus und desto besser deine Herzratenvariabilität (HRV). Der HRV-Wert ist ein non-invasiv messbarer Biomarker für viele psychosomatisch verursachten Krankheiten. Durch ihn lassen sich Voraussagen treffen zu Schlaganfall-, Herzinfarkt-, Diabetes- oder Krebsrisiko.

Ein hoher vagaler Tonus hilft, nach einer Stresserfahrung rasch wieder in den Ruhezustand zu kommen. Normalerweise ist der Vagusnerv umgeben von einer Myelinschicht, die dafür sorgt, dass die Signalübertragung gut funktioniert. Die Myelinschicht entwickeln wir in den ersten 3 Lebensjahren durch Bindung an co-regulierende Menschen. Die Baby-Spiegelneurönchen erspüren den Ruhezustand des Menschen, der sich um es kümmert, und können ihn spiegeln. Je häufiger und länger ein Baby in Gesellschaft eines entspannten geliebten Menschen sein kann, desto besser wird die Myelinschicht um den Vagusnerv ausgebildet sein. Schlechte Myelinisierung ist die am weitesten verbreitete Folge von Entwicklungstrauma oder emotionaler Vernachlässigung. Die menschliche Entwicklung benötigt viel Zeit, die ein Kind in der Umgebung eines sich sicher fühlenden Erwachsenen verbringen kann. Jemand, der sich sicher fühlt, atmet tief und langsam, das Gesicht ist entspannt, der Blick sanft und interessiert, die Stimme sicher und moduliert. Nähe stellt keine Bedrohung dar, sondern ist Ausdruck von Zugehörigkeit und Zärtlichkeit.

Erinnerst du dich an eine Gelegenheit, bei der dir die „Gesichtszüge entgleist“ sind? Involviert dabei ist der ventrale Teil des Vagus, der viele deiner Gesichtsmuskeln steuert.

Je mehr wir ein Gefühl von Sicherheit haben, desto besser funktionieren wir in der Welt. Unser Körper checkt permanent unsere Umgebung, ob irgendwo ein Säbelzahntiger lauert. Diese Tätigkeit nennt sich „Neurozeption“. Als soziale Wesen nehmen wir unterbewusst den Zustand der Menschen wahr, die uns umgeben - so wie eine Herde die Alarmbereitschaft eines einzelnen Tieres bemerkt und damit das Überleben vieler wahrscheinlicher macht.

Wir sind auf Co-Regulation angewiesen, wenn Gefühle zu stark für uns sind. Deshalb trösten wir Kinder und begleiten sie durch starke Gefühle, auch wenn sie für uns unangenehm sind.

Wenn unsere Amygdala durch die Neurozeption über eine Bedrohung informiert wird, schütten wir Adrenalin und Cortisol aus und erhöhen unsere Leistungsbereitschaft. In einer Notsituation atmen wir kurze kräftige Atemzüge, so bereitet uns unser Körper auf eine Kampf- oder eine Fluchtsituation vor. Daran ist nichts auszusetzen. Unser Körper beschützt uns und hilft uns, so gut wie möglich auf die Situation zu reagieren. Je nach Lageeinschätzung steigt der dorsale Teil des Vagus ein und versetzt uns in den Freeze-Modus. Das ist die menschliche Entsprechung zum Totstellreflex. Er bezieht sich nicht nur auf unseren Körper: Um uns vor Aggression zu schützen, gibt es auch die Reaktion des „Fawning“: Wir tun so, als wären wir völlig harmlos, hätten überhaupt keine eigenen Bedürfnisse, wir katzbuckeln und sagen zu allem Ja und Amen, ohne es wirklich so zu meinen. Ob es sich dabei um eine Reaktion des autonomen Nervensystems handelt oder um eine erlernte Strategie zur Deeskalation, ist bei Traumaforschern umstritten – Traumabetroffene allerdings sind sich einig, dass das autonome Nervensystem in solchen Momenten einsteigt. Wir lernen aus allen Erfahrungen, die wir machen. Je länger eine bestimmte Erfahrung anhält, umso mehr sind unsere Körper, Hirne und Nervensysteme entsprechend verfasst.

Leute mit chronischen Traumaerfahrungen schalten oft unbewusst in Zustände, die der Körper für Momente außerordentlicher Bedrohung reserviert hat. Sie bemerken das nicht. Viele Co-Abhängige haben damit zu kämpfen. Etliche Prostituierte sind so massiv in dieser Dissoziation gefangen, dass sie erst Jahrzehnte später realisieren, was mit ihrem Körper in den Jahren bezahlten Missbrauchs geschehen ist. Daher kommt es, dass manche von ihnen glauben, ihre Arbeit gerne zu machen. Was wohl geschähe, wenn man ihnen allen eine Wohnung und ein Grundeinkommen zur Verfügung stellte?

Hochfunktionale AutistInnen haben früh gelernt, ihre sozialen Notlagen zu „maskieren“ - sie verstehen nicht, weshalb Leute fragen: „Wie geht’s?“, wenn die Antwort gar nicht interessiert. Sie beobachten und erstellen aus vielen definierten Einzelschritten eine innere Handlungsvorschrift. Dann ahmen sie soziales Verhalten mit hohem innerem Energieaufwand nach. Das kann sehr lange funktionieren, ohne dass es jemand bemerkt - bringt aber schwerste gesundheitliche Folgen mit sich.

Sozialer Schmerz tut genauso weh, wenn nicht sogar mehr, als körperliches Leid. Daher fürchten wir sozialen Schmerz. Unser Körper weiß, dass es früher unseren Tod bedeutet hat, nicht mehr zur Gemeinschaft zu gehören. Und so beugen wir uns allerhand Diktaten, um dazu zugehören. 

Wir sind darauf angewiesen, uns sicher zu fühlen.

Sonst werden wir krank.

Wie mögen sich Obdachlose fühlen? Kinder, die Strafen fürchten müssen? Arbeitslose? Frauen, die alleine durch die Dunkelheit gehen? 

Wie mag man sich fühlen, wenn man einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Wie fühlen sich Schwarze, die von der Polizei kontrolliert werden? 

Wie mögen sich Mütter fühlen, die mit gewalttätigen Partnern zusammenleben (selbst wenn er die Kinder nicht angreift)? Die nicht sicher sein können, dass nächsten Monat die Miete bezahlt werden kann? Wie mögen sich Mütter fühlen, die auf der Flucht sind? Die in Flüchtlingslagern leben? Die in Kriegsgebieten leben? Die in einem Land leben, in dem feste patriarchale Strukturen und das Vorrecht von Männern gilt?

Deshalb wäre es richtig, Müttern und Kindern auf jeden Fall Asyl zu gewähren und sie in eine sichere Umgebung zu bringen. 

Menschen, die systemimmanenter Unterdrückung ausgesetzt ist, können sich nicht sicher fühlen. Sie können nicht heilen und sie können ihren Kindern das Gefühl der Sicherheit und des Angenommenseins in der Welt nicht wirksam weitergeben.

 

Angst macht krank. Armut ist Unsicherheit. Armut ist Gewalt.